Coronavirus in Deutschland: Schröder warnt vor zweitem „Lockdown“
Ob der Schutz von Leben über allem steht, ist für den Altkanzler eine philosophische Debatte. Er fordert stattdessen ein Ende der Russland-Sanktionen.
Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat vor schädlichen Kosten-Nutzen-Debatten und zu schnellen Lockerungen in der Corona-Krise gewarnt. „Die Nationalsozialisten haben Millionen von Menschen als lebensunwert bezeichnet und ermordet. Wir sind aus historischer Erfahrung und aus guten Gründen beim Lebensschutz und Abwägen von Einschränkungen vorsichtig“, sagte Schröder dem Tagesspiegel. „Das sollte auch so bleiben“.
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Die von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) angestoßene Debatte, dass der Schutz von Leben steht nicht über allem stehe, bezeichnete Schröder als eine primär philosophische Debatte. Aber alle sollten bedenken: „Wenn man jetzt zu schnell lockert und dann einen zweiten Lockdown braucht, dann ist diese Abwägung kein philosophisches, sondern ein ganz reales, praktisches Problem.“
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte er mit Blick auf den von Merkel geschaffenen Begriff der Öffnungsdiskussionsorgien vor einer Basta-Politik. „Das war der Versuch, den zu weitreichenden Lockerungsbemühungen mit einem Basta zu begegnen. Meistens funktioniert das ja nicht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß“, sagte Schröder. Die Kanzlerin habe aber Recht, wenn sie zu Geduld mahne. Diese Einschränkungen seien ja nicht von Dauer, betonte der 76-Jährige.
Er glaube auch nicht, dass sie der Staat finanziell übernehme. „Ich habe keine Angst, dass damit die nächste Generation über die Maßen belastet wird. Auch sie muss ja ein Interesse haben, dass die Wirtschaft stabil bleibt und es künftig Arbeits- und Ausbildungsplätze gibt.“
Ganz wichtig sei ihm aber, dass man dabei auch an die Kultur denkt. „Viele Künstlerinnen und Künstler sind beschäftigungslos und in großer Sorge. Hier muss geholfen werden, denn nach der Krise geht es nicht nur darum, die Unternehmen schnell wieder anlaufen zu lassen, sondern auch die Kultur.“
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Zudem forderte Schröder die Bundesregierung dazu auf, wegen der Corona-Krise die bestehenden Sanktionen gegen Russland aufzuheben. „Gerade jetzt, wo wegen der Corona-Krise wirtschaftlich schwere Zeiten auf uns zukommen, brauchen wir mehr Zusammenarbeit. Deshalb müssen unsinnige Sanktionen weg“, sagte der letzte noch lebende Altkanzler in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.
Angesprochen darauf, dass dies die Antwort Europas auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim gewesen sei, meinte Schröder: „Wer glaubt, man könnte Russland mit Sanktionen zu irgendetwas zwingen, der irrt. Kein russischer Präsident wird die Krim jemals an die Ukraine zurückgeben.“
Inmitten dieser Corona-Pandemie lehre das Kriegsgedenken am 8. Mai: „Statt Konfrontation geht es heute weltweit um Verständigung, Zusammenarbeit und Solidarität.“ Man dürfe die Historie im Falle Russlands nicht ausblenden.
„Es war ein grausamer Vernichtungsfeldzug mit dem Ziel, Russland von der weltpolitischen Bühne verschwinden zu lassen. Das dürfen wir nie vergessen – und dem muss die deutsche Russland-Politik stärker Rechnung tragen als dies gegenwärtig der Fall ist“, sagte Schröder. „Dass man in Russland trotz dieser schrecklichen Vergangenheit bereit ist, mit dem neuen Deutschland vertrauensvoll zusammen zu arbeiten, können wir gar nicht hoch genug schätzen. Dazu passt nicht, dass wir die Sanktionen gegen Russland weiter unterstützen.“
K-Frage der SPD schnell klären
Angesprochen auf seine Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Tätigkeit für die russischen Staatskonzerne Gazprom und Rosneft, verwahrte sich Schröder gegen Kritik, er sei ein Lobbyist Putins: „Wenn jemand im Aufsichtsrat eines US-Unternehmens sitzt und als strikter Transatlantiker auftritt, wird ihm auch nicht unterstellt, er beziehe diese Position nur deshalb, weil er da einen Job hat. Das gibt's eigentlich immer nur bei Russland“, kritisierte Schröder.
Außerdem rief der Altbundeskanzler die SPD-Spitze wegen der ungeklärten Machtfragen bei der Union zur raschen Klärung der Kanzlerkandidatur auf. „Die Frage sollte nicht mehr lange offenbleiben“, sagte Schröder in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“.
Er rate dazu, eine Entscheidung spätestens bis zum Herbst zu treffen. „Bis dahin müssen sich die Personen, die in Frage kommen, zusammentun und die Sache gemeinsam mit der Parteiführung klären.“ Es sei gut, „wenn bei uns die Dinge geklärt sind“, sagte Schröder. „Bei der Union wird das nicht so schnell der Fall sein.“
CDU und CSU seien in einem gewaltigen Dilemma, weil Angela Merkel nicht mehr antreten werde. „Die müssen natürlich sagen: Wählt CDU. Damit Frau Merkel gehen kann und ein anderer oder eine andere ihre Position einnehmen kann. Das ist schwer zu vermitteln“, sagte Schröder. „Deswegen wäre es vernünftig, wenn die SPD sich mit einer anerkannten Persönlichkeit frühzeitig aufstellt.“
Angesprochen auf Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD), betonte Schröder: „Ohne Zweifel hat er diesen Willen“. Aber auch Arbeitsminister Hubertus Heil mache hervorragende Arbeit. Die SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken erwähnte Schröder mit keiner Silbe. „Die Kabinettsmitglieder der SPD machen ihren Job sehr gut. Ich bin mir sicher: das wird nach der Überwindung der Krise auch von den Wählerinnen und Wählern anerkannt“, so der Altkanzler.