EU und die Ukraine: Schleichende Eroberungen
Europa und Russland befinden sich im ungleichen Wettbewerb um die Länder der östlichen Partnerschaft - und der kann lange dauern. Ein Kommentar
Zuerst die gute Nachricht: Eine rasche Niederlage ist unwahrscheinlich. Und nun die schlechte: Ein rascher Erfolg ist ebenso unwahrscheinlich. Das Ringen um die östlichen Nachbarstaaten der EU, in dessen Zentrum die Ukraine steht, wird über viele Jahre gehen. Es ist eine Probe der Geduld und der Willenskraft. Die Haupt-Kontrahenten, Angela Merkel und Wladimir Putin, sind jetzt in Runde drei. Würde die Zukunft der Ukraine mit „hard power“ entschieden, wäre Putin auf kurze Sicht im Vorteil. Der Westen will sich ihm nicht militärisch entgegenstellen. Auch Putin schreckt vor offenem Krieg zurück – aus Furcht vor der dann folgenden Isolation.
Europäische oder Eurasische Union
Bei der „soft power“ ist die EU überlegen. Ihr Angebot wirtschaftlicher und politischer Anbindung ist für die Ukraine, Weißrussland, Georgien, Moldawien, Armenien und Aserbaidschan attraktiver als die von Russland betriebene Re-Integration in einen Staatenbund, in dem Moskau dominieren würde und die anderen Vasallen wären. Die Namen wechseln, mal hieß das Konstrukt GUS, heute Eurasische Union, um angebliche Gleichwertigkeit mit der EU zu suggerieren.
Einen unbehinderten Wettbewerb würde der Westen gewinnen, aber erst langfristig, weil die Partnerländer Politik, Justiz und Wirtschaft reformieren müssen. Merkels Regierungserklärung zum EU- Gipfel in Riga, nach der heute nicht mal die Bedingungen für eine Visabefreiung vorliegen, zeigt, wie weit der Weg ist. Haben die EU und ihre Partner den langen Atem? Oder kann Putin hoffen und durch Störmanöver erreichen, dass sie die Geduld verlieren und der Reformprozess sich festläuft, zumal so viele andere Probleme die Aufmerksamkeit der EU fordern?
Droht eine Sommeroffensive?
Die Praxis Putin’scher Obstruktion: Im Februar hat er in Minsk ein Friedensabkommen geschlossen, aber es von Beginn an hintertrieben – nur möglichst unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsgrenze im Westen. Für „Daily Beast“, eine US-Publikation im linksliberalen Spektrum und kein Megafon antirussischer Propaganda, haben zwei Russland-Experten Berichte der OSZE und der ukrainischen Regierung aufgelistet. Seit Minsk haben die Separatisten 28 Städte erobert, rücken weiter auf Mariupol vor und planen offenbar eine Offensive, um eine Landbrücke zur russisch besetzten Krim zu gewinnen. Sie werden systematisch von russischen Soldaten unterstützt und mit modernen Waffen ausgerüstet. Die jüngste Festnahme russischer Soldaten in der Ukraine bestätigt diese Vorwürfe. Prorussische Kräfte stören die Aufklärungstechnik der OSZE, wenn sie zum Beispiel Kampfpanzer bewegen, um Beweise zu verhindern.
Information und Öffentlichkeit – oder deren Verhinderung – sind Waffen in diesem schleichenden Angriffskrieg. Im grellen Medienlicht muss Putin sich zurückhalten. Während der Winterspiele 2013 in Sotschi wollte er nicht in der Ukraine eingreifen, der Angriff auf die Krim kam danach. Vor dem 70. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai hätten Bilder vom offenen Bruch des Minsker Abkommens gestört, jetzt wächst die Versuchung wieder – in der Hoffnung, dass die Europäer nicht so genau hinsehen. Berichten hilft, Wegschauen schadet den Aussichten auf Frieden. Heute und wohl noch viele Jahre.