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Steuerflucht, Schwarzgeld, Terrorfinanzierung: Die "Panama Papers" bringen Licht ins Dunkle.
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Panama Papers: Schattenfiguren im Rampenlicht

Ein Faktenkonvolut entfaltet seine Wucht: Warum den „Panama Papers“ eine ähnlich aufrüttelnde Wirkung zu wünschen ist, wie sie vor 42 Jahren vom „Archipel Gulag“ ausging. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer wissen wollte, konnte wissen. Das war schon so, als 1974 „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn erschien. Auch Dostojewski, Tschechow, Tolstoi hatten viele Jahrzehnte zuvor über Verbannungen nach Sibirien und das grausame System der Zwangsarbeit geschrieben. Stalins Großer Terror, der Holodomor in der Ukraine, die Moskauer Prozesse waren 1974 ebenso bekannt wie die Niederschlagungen des Aufstands in Ungarn und des Prager Frühlings.

Bereits 1962 hatte Solschenizyn den Alltag eines Gefangenen in einem sowjetischen Arbeitslager geschildert („Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“), 1968 folgte sein Roman „Der erste Kreis der Hölle“. Doch erst mit der Ausweisung des russischen Literaturnobelpreisträgers – und dessen Aufnahme durch Heinrich Böll – drangen die Verbrechen des stalinistischen Systems ins volle Bewusstsein der  westlichen Öffentlichkeit. Ein derart eindringliches Faktenkonvolut, wie es der „Archipel Gulag“ offenbarte, hatte es zuvor noch nicht gegeben.

Der Vergleich ist überzogen. Das System aus anonymen Briefkastenfirmen, Steueroasen, Geldwäsche, geheimer Drogenkartell- und Terrorfinanzierung, wie es sich durch die jetzt veröffentlichten „Panama Papers“ anzudeuten scheint, reicht in seiner Dimension an die Menschheitsverbrechen kommunistischer Regime nicht heran. Doch auch heute gilt: Wer wissen wollte, konnte wissen. Nur dass der Übergang von ahnen zu glauben und von vermuten zu wissen eben oft fließend ist. Daher bedarf es manchmal einer besonderen Wucht, damit aus einem leicht verdrängbaren Zustand ein akuter Skandal wird. 2,6 Terabyte geheimer Dokumente, die ein Jahr lang von Hunderten Journalisten aus Dutzenden von Ländern ausgewertet wurden, sind eine solche Wucht.

Die Enthüllungen sind das Ergebnis menschlicher Auswertungen

Natürlich werden die Enthüllungen auch inszeniert. Sie werden begleitet von einem vielstimmigen medialen Orchester, in dem alle Instrumente vertreten sind – Nachricht, Dokumentation, Online, Fernsehen, Buch, Talkshow. Wer im Besitz der 11,5 Millionen Dokumente ist, diktiert die Dramaturgie  des Konzerts, alle anderen spielen die zweite Geige. Zentrale Fragen sind unüberprüfbar: Wer ist der Informant? Was treibt ihn? Konzentrieren sich die Tarnfirmen tatsächlich auf Despotenzirkel aus Russland, China, Lateinamerika und Arabien? Die Enthüllungen bringen grelle Transparenz in das System der Schwarzgeldbranche, aber sie verdecken gleichzeitig, dass sie das Ergebnis menschlicher Auswertungen sind, die kein Außenstehender nachvollziehen kann.

Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob das Recht auf Privatheit verletzt wurde oder das öffentliche Interesse an Aufklärung in jedem Fall überwog. Sind Verbrechen nachgewiesen worden? Oder haben sich „nur“ viele dubiose Gestalten weltweit ganz legaler Finanztricks bedient? Wirkliche Transparenz wäre gegeben, wenn die erkenntnistheoretisch privilegierten Medien sehr viel offener über die Kriterien und Grenzen ihrer Auswertungen berichten würden, als sie es bislang tun.

Was aber bleibt, ist die geballte Information über eine finanzielle Schattenwelt, für die es keine Berechtigung gibt. Allein das ist ein hoher Wert. Wer das System weiter stützt, weil er an ihm teilnimmt, befördert Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Korruption, Sanktionsumgehung, Terrorfinanzierung. Wer wiederum kühl abwägt zwischen der Abschaffung eines solchen Systems und der Aufrechterhaltung eines dubiosen Rechts auf Anonymität, wenn Milliardenbeträge hin und her geschoben werden, kommt zu einem eindeutigen Ergebnis.

Trotz aller Unvergleichbarkeit: Den „Panama Papers“ ist eine ähnlich aufrüttelnde Wirkung zu wünschen, wie sie vor 42 Jahren vom „Archipel Gulag“ ausging. Zumindest kann nun keiner mehr sagen, er habe nichts gewusst.

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