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Manöver „Anakonda 2016“: Mehr als 30 000 Soldaten aus Nato-Partner-Staaten proben derzeit in Polen den Ernstfall – einen Angriff auf die Allianz.
© Janek Skarzynski/AFP

Nato stationiert mehr Soldaten in Osteuropa: Russland ist die neue alte Front

Die Angst der Osteuropäer vor Russland war Kernthema des Nato-Treffens – das westliche Verteidigungsbündnis steht aber auch vor anderen großen Herausforderungen. Wie will die Nato diese meistern?

Es ist noch gar nicht lange her, dass Nato- Gipfel den Charme von Klassentreffen atmeten: Man sieht sich aus Gewohnheit, wärmt öde Anekdoten auf und beschwört den alten Kumpanengeist. Doch als die Verteidigungsminister der Allianz am Mittwoch den nächsten Gipfel vorbereiten, der am 8. und 9. Juli in Warschau stattfindet, war für Nostalgie kein Raum. Schon beim letzten Treffen vor zwei Jahren in Wales sah sich das Bündnis durch den Ukraine-Konflikt plötzlich wieder hart auf seinen Kernzweck als Verteidigungsverbund zurückgestoßen. Diese neue alte Front wirkt nach, doch neue Krisen sind dazugekommen – vor allem politische, die nur mittelbar mit Militär zu tun haben, den Nordatlantikpakt aber trotzdem belasten. Und die Flüchtlingskrise ist nur die aktuellste davon.

Welches Thema steht beim Nato-Gipfel im Vordergrund?

Wenn sich die Staats- und Regierungschefs unter dem Leitmotto „Abschreckung und Verteidigung“ im Juli treffen, steht im Mittelpunkt unübersehbar der neue Ost-West-Konflikt. So nennt ihn hierzulande keiner, schon aus diplomatischen Gründen. Trotzdem lebt in der neuen Abschreckungspolitik gegen Russland die alte Front des Kalten Krieges wieder auf. Und die nationalkonservative Regierung in Warschau als Gastgeber tut das Ihre, diese Erinnerung zu pflegen.

Die am Mittwoch beschlossene Stationierung von vier zusätzlichen Bataillonen in Osteuropa sei "eine angemessene Reaktion auf Russlands aggressive Handlungen", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Wir wollen potenziellen Angreifern zeigen, dass wir reagieren, wenn sie uns bedrohen."

Estland, Lettland, Litauen und Polen hatten um die Stationierung der Bataillone gebeten, da sie seit der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim durch Russland ihre eigene Sicherheit bedroht sehen. Außerdem läuft zurzeit in Polen das größte Manöver dort seit dem Ende des Warschauer Pakts – 31 000 Soldaten üben zehn Tage lang, die „Ostflanke“ der Allianz zu verteidigen, wie Verteidigungsminister Antoni Macierewicz unverblümt verkündete. Offiziell ist „Anakonda 2016“ keine Nato-Übung. Aber 24 der 28 Partnerstaaten wirken mit, auch die Bundeswehr hat rund 400 Pioniere zum Brückenbau geschickt.

Das Manöverszenario passt genau zu der Art Auseinandersetzungen, gegen die sich auch die Nato wappnet: Ein verdeckter Angriff wird simuliert, eine Attacke ohne Kriegserklärung. Da stehen die russischen „grünen Männchen“ Pate, die auf der Krim und in der Ukraine aufgetaucht waren. Dass Polen Militärs aus der Ukraine und aus Georgien dazugeladen hat, macht die Anspielung überdeutlich. Russland reagierte denn auch vergrätzt: So etwas trage nicht zum Vertrauen bei.

Wie könnte die Unterstützung für Osteuropa aussehen?

Die konkreten militärischen Beschlüsse für die neue Lage an der Ostfront, den „Readiness Action Plan“, hat die Nato schon 2014 in Wales gefasst. Dass künftig vier multinationale Nato-Bataillone mit je etwa 1000 Mann in Estland, Lettland, Litauen und Polen stehen sollen, dazu eine US-Brigade in Osteuropa, folgt dieser Logik einer stärkeren Militärpräsenz in Ländern, die sich durch den neuen Kurs in Moskau bedroht fühlen. Kollektive Abschreckung – das wissen Ältere noch, die es in der Bundesrepublik erlebt haben – wirkt erst dann richtig glaubwürdig, wenn Partnerstaaten ihre eigenen Soldaten nach vorne in die Risikozonen schicken.

Doch was militärisch sinnvoll erscheint, ist zugleich diplomatisch ein Problem. Die Nato-Russland-Grundakte von 1997 zum Beispiel verbietet die „dauerhafte Stationierung“ von „substanziellen“ Kampfverbänden in den östlichen Nato- Staaten. Man behilft sich mit einem Kniff: Die Truppen werden rotierend eingesetzt wie in einer Art Dauermanöver.

In Osteuropa ist die Neigung freilich groß, diese Grundakte gleich ganz für veraltet zu erklären und auf ihre Begrenzungen zu pfeifen. Tatsächlich nimmt ja auch die Bundesregierung im Entwurf ihres neuen strategischen Weißbuchs Abschied von dem freundlichen Gedanken an einen „Partner“ Russland – die Großmacht im Osten wird jetzt als „Herausforderung“ beschrieben.

Welche Position vertritt Deutschland?

Die Deutschen legen großen Wert darauf, nicht in das alte Ost-West-Muster zurückzufallen. Nicht zufällig hat sich Kanzlerin Angela Merkel gerade erst dafür ausgesprochen, vor dem Nato-Gipfel möglichst noch einen Nato-Russland-Rat einzuberufen. Die Nato hatte den Gesprächskreis nach der Annexion der Krim 2014 auf Eis gelegt und erst in diesem Frühjahr wieder aufgetaut. Merkels Appell zielte aber nicht in Richtung Moskau – die Führung im Kreml hat ohnehin großes Interesse an der Veranstaltung. Der Dialogappell der Kanzlerin galt den Hardlinern in den osteuropäischen Staaten.

Spielt nukleare Abschreckung in den Überlegungen der Nato eine Rolle?

Geht es nach Deutschland und anderen großen Partnern wie Frankreich, Großbritannien und den USA, wird von Warschau eine Doppelbotschaft an Moskau ausgehen: Wir lassen mit uns reden – aber naiv sind wir nicht. Deshalb kommt auch das Thema „atomare Abschreckung“ erneut auf die Agenda.

Russland ist nach Einschätzung aller Militärexperten der Nato konventionell klar unterlegen. Aber Präsident Wladimir Putin hat den Niedergang der einstigen Roten Armee durch eine Reihe grundlegender Reformen gestoppt. Inzwischen ist sie in der Lage, binnen weniger Tage mehrere zehntausend Mann an ihren westlichen Grenzen zu mobilisieren. Dazu kommen Gedankenspiele hoher russischer Militärs über „de-eskalierende Atomschläge“ – ein zynisches Konzept, das annimmt, dass sich westliche post-heroische Demokratien vom Beistand gegen überfallene Bündnispartner sehr schnell abbringen ließen, wenn man ihren Bürgern mit ein, zwei Atombomben etwa auf Nachschubwege die Konsequenzen vor Augen führt.

Mit der russischen Mobilisierungsfähigkeit zusammengedacht stellen sich für die Nato neue Fragen nach der eigenen Abschreckung – also auch der Nuklearstrategie. Experten diskutieren schon länger, ob nicht für sie das gleiche Ziel gelten muss wie für die konventionellen Streitkräfte der Allianz – mehr Übungen zum Beispiel und kürzere Reaktionszeiten.

Wird darüber nachgedacht, das Bündnis zu erweitern?

In den Zusammenhang der Ost-West- Debatte gehört auch die Frage der Bündnis-Erweiterung. Montenegro hat schon die Zusage als 29. Mitglied – ein klares Signal an Moskau, dass sich die Allianz ihre Aufnahmepolitik nicht vorschreiben lässt. Aber ob und wie es weitergeht, bleibt umstritten. Die Bundesregierung zählt hier eher zu den Skeptikern – nicht zuletzt aus der Erfahrung in der EU, dass neue Mitglieder mehr Last als Bereicherung sind, wenn sie ihre Verpflichtungen gar nicht erfüllen können. Langjährige Aspiranten wie die Ukraine bleiben auch deshalb weiter draußen.

Welche Rolle spielen die USA derzeit in der Nato?

Die Neigung der USA wächst, sich aus „europäischen“ Angelegenheiten zunehmend zurückzuziehen. Denn die Konzentration auf das Ost-West-Thema beleuchtet freilich nur einen der Konfliktbereiche, die das Bündnis beschäftigen – und einen, der in seiner Frontstellung vergleichsweise einfach strukturiert ist. Andere erscheinen sehr viel komplizierter. Selbst im traditionellen Einflussgebiet Nahost wollen die USA die Weltpolizisten-Rolle der letzten Supermacht nicht mehr spielen.

Was unter Präsident Barack Obama angefangen hat, würde sich unter einem Nachfolger Donald Trump noch verstärken. Aber auch eine Hillary Clinton könnte sich dem Umstand nicht entziehen, dass die Aufsteigerstaaten Asiens für Amerika ökonomisch heute schon und militärisch demnächst zur wichtigeren Herausforderung werden könnten. So oder so heißt das für die Europäer: Verteidigung wird teurer, wenn der alte Bundeswehr-Witz nicht mehr stimmt, die Deutschen sollten die Sowjetarmee nur so lange aufhalten, bis Militär kommt.

In Europa wächst die Einsicht, dass man sich ohnehin stärker selbst um die unmittelbare Nachbarschaft kümmern muss. Der Punkt, an dem das wie unter dem Brennglas deutlich wird, ist die Flüchtlingskrise.

Wie sehr beschäftigt der Andrang der Flüchtlinge das Bündnis?

Unmittelbar ist die Nato durch ihre Marineoperationen in der Ägäis und im Mittelmeer mit der Flüchtlingsfrage befasst. Aber das ist nur der operative, sichtbare Teil. Mittelbar bringt die Flüchtlingsfrage wichtige Nato-Mitglieder in politische Gegenpositionen, die das Bündnis zu belasten drohen. Das Nato-Mitglied Türkei beäugt ohnehin schon misstrauisch die Konzentration auf eine theoretische Gefahr an den Ost-Grenzen – schließlich tobt an seiner eigenen Ostgrenze ein sehr realer Krieg in Syrien – obendrein mit russischer Beteiligung.

Und es ist dieser Krieg, der der Türkei Millionen Flüchtlinge ins Land gebracht hat. Dass die gleichen osteuropäischen Nato-Partner lautstark mehr militärischen Beistand anfordern, die in ihrer Eigenschaft als EU-Mitglieder von einer Aufnahme von Flüchtlingen überhaupt nichts wissen wollen, geht das Bündnis zwar formal nichts an. Aber der doppelte Maßstab in Sachen Solidarität trägt zusätzlichen Sprengstoff in den Nord- Süd-Interessenkonflikt. Zumal die handelnden Personen auf beiden Seiten nicht für diplomatisches Feingefühl bekannt sind – die türkische Führung unter dem Präsidenten Tayyip Recep Erdogan so wenig wie die polnischen Gastgeber mit der grauen Partei-Eminenz Jaroslaw Kacynski im Hintergrund.

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