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Senioren ziehen nach Berlin: Ruhe im Rummel

Endlich in Rente, endlich kein Stress mehr, endlich der friedliche, beschauliche Lebensabend. Nein, sagen heute viele, nichts ist im Alter besser als eine Großstadt – zum Beispiel Berlin.

Von Katja Demirci

Als sie das erste Mal in der neuen Heimat aufwachte, lag sie nicht in ihrem Bett, sie saß im Zug. Der war gerade leise ruckelnd und aus Bonn einfahrend, im Ostbahnhof zum Stehen gekommen. Da stieß sie ein freundlicher Herr sanft an der Schulter: Entschuldigung, weiter geht’s nicht. Am Bahnhof Zoo hatte sie doch aussteigen wollen, nun war sie glatt zu weit gefahren. Zügig stand sie auf, nahm ihr Gepäck und trat auf den Bahnsteig.

Sie hatte sich also dazu entschlossen, nach Berlin zu ziehen. Und doch wurde sie noch wochenlang das Gefühl nicht los, sie müsste wieder Koffer packen, es handelte sich um nicht mehr als einen verlängerten Besuch. Vielleicht lag es an der Stadt, die ja ohnehin ein ständiges Ankommen ist. Mittlerweile hat sich das mit dem Gefühl des ewigen Reisens erledigt, denn etwa seit dem Zeitpunkt ihrer Pensionierung ist Brigitte Johanna Zündorf, Jahrgang 1939, endgültig Berlinerin.

Seit Jahren schon wird von einer „Renaissance der Städte“ geredet, attraktiv nicht nur für die Jungen, sondern vor allem auch für die Alten. Ein Trend soll das sein, wonach Brigitte Zündorf nur die Vorhut eines Schwarms von Senioren sein könnte, die künftig ihr Häuschen in der Provinz gegen die Wohnung in der Stadt tauschen möchten. Kurze Wege, bessere ärztliche Versorgung, öffentlicher Nahverkehr, Kultur – was hat die Stadt nicht alles für Vorteile gegenüber dem Landleben.

Vertrautes aufgeben

Und doch: Wer macht das schon? Das Vertraute aufgeben, das Erreichte hinter sich lassen, noch mal neu anfangen. Nach Berlin zieht niemand, der mit seinem Leben abgeschlossen hat. Nach Berlin zieht, wer noch mal einen draufsetzen will, wer das Alter nicht passieren lassen, sondern gestalten möchte.

Brigitte Zündorf wartet an der Treppe zum Konzerthaus auf dem Gendarmenmarkt. Sie trägt ein warmes Jackett und einen hellgrauen Hut. Ihre Haare darunter sind weiß und beinahe schulterlang. Sie arbeitet ehrenamtlich im Konzerthaus, hilft Besuchern, weist vor den Konzerten den Weg zu den richtigen Plätzen - oder den Toiletten. Es ist nur eines von vielen Ehrenämtern.

„Berlin hat ein anderes Tempo als Bonn“, sagt sie, und schon beim Handschlag ist klar: Frau Zündorfs Berliner Tempo bestimmt im Wesentlichen sie selber.

„Für mich stand immer fest, dass ich irgendwann nach Berlin will“, sagt sie. Sie verließ die Tochter im Rheinland, wo sie knapp 60 Jahre gelebt hatte, ließ den geschiedenen Mann dort, die alte Arbeit, Freunde, brach auf in diese nordöstliche Ecke Deutschlands, die ihr von jeher als die beste erschien.

Jahrzehntelang war ihr Berlin eine Art Phantomschmerz gewesen, schließlich war sie hier geboren worden, im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Schöneberg. Als Kleinkind lief sie 1943 an der Hand der schwangeren Mutter durch die brennenden Straßen, der schwere Angriff im November zerstörte die Gedächtniskirche, die Familie rettete sich zu den Großeltern ins rheinische Waldbröl. Und wie das so ist: Erst mal dort, bleibt man da.

Ihren Mann zog nichts in die Großstadt

Den Rheinländer, den sie heiratete, zog nichts in die Großstadt, dafür die Arbeit an die Mosel. Auch schön. Aber eben nicht Berlin. Brigitte Zündorf, die lange Jahre als Buchhalterin arbeitete, blieben die Erinnerungen an Besuche in den Schulferien, ans Schwimmen im Olympiabad und Pilzesammeln im Wald, an die Begeisterung für S- und U-Bahnen. Heute wohnt sie in einer kleinen Wohnung in Spandau, aus ihrer Sicht ein Katzensprung zur Stadtmitte, dem Nahverkehr sei Dank.

„Berlin ist weit“, sagt sie und dehnt das Wort über Kilometer. Sie zitiert Tucholsky: „Vorne Ku’damm, hinten Ostsee.“ Die Freiheit. Der Himmel. Dieses Helle, Hohe, über das nur so begeistert schwärmen kann, wer die rheinische Suppe kennt, den Dunst im Flusstal, der nicht mal über Weihnachten ganz verschwindet. Bonn war ihr zu eng. Köln schon besser. Aber ging nicht noch mehr?

Das Enge, das Gewohnte zumindest, ist es, was den Menschen normalerweise auch nach der Pensionierung dort hält, wo er schon all die Jahre zuvor gelebt hat. Ein soziales Netz, in dem sich ordentlich zu verstricken auch Sicherheit gibt. Carmella Pfaffenbach, Professorin für Kulturgeografie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, hat die „Mobilitätstrends der Generation 50plus“ erforscht und kann sagen: Einen fundamentalen Trend zum Umzug in die Stadt gibt es nicht. Jedenfalls noch nicht.

"Ich wusste ja nicht, was mich hier erwartet"

Es muss ja auch allerhand zusammenkommen, damit ein Plan überhaupt Gestalt annehmen kann: ausreichend Rente zum Beispiel und Gesundheit vor allem. Von Entschlossenheit gar nicht zu sprechen. Man muss schließlich bereit sein, über das eigene Alter nachzudenken, ein Konzept entwickeln für den Ruhestand, mit allen Konsequenzen. Und sei das bloß eine Kleinigkeit wie die Dusche ohne hohe Schwelle im Bad, für die sich Brigitte Zündorf entschied.

Vor ihrem endgültigen Entschluss zum Umzug standen etliche Wochenendbesuche in der Stadt. „Ich wusste ja nicht, was mich hier erwartet“, sagt sie. Sicher war sie sich dann trotzdem recht schnell. Die Tochter war skeptisch, wusste aber: Wenn die Mutter das sagt, macht sie es. Die Freunde sagten: Jaja, geh mal. Anfangs fuhr sie noch regelmäßig zurück nach Bonn, inzwischen höchstens zweimal im Jahr.

Sie hat ja auch gar keine Zeit. Kurz nachdem sie in Berlin angekommen war, meldete sie sich beim Großelterndienst und wurde „Leih-Oma“. Mit der Mutter des inzwischen elfjährigen Jungen ist sie noch immer befreundet. „Wenn ein Baum alt wird, muss man rechtzeitig rundum neue pflanzen“, das habe ihr Vater immer gesagt. Frau Zündorf pflanzt mit Herzlichkeit. Bald wird sie ein neues Enkelkind kennen lernen, während aus dem alten Freundeskreis per Telefon die ersten Nachrichten von Todesfällen zu ihr kommen.

„Je älter man wird, desto näher braucht man die Kultur“

Sie ist Inhaberin eines 65plus-Tickets der Bahn und fährt, wann immer es geht, mit Freundinnen raus nach Brandenburg. Sie besucht Museen und Konzerte, selbst „wenn man sich als Rentner nicht alles leisten kann“. Aber wenn, dann liegt es eben vor der Tür. „Je älter man wird, desto näher braucht man die Kultur“, sagt Brigitte Zündorf, und dass sie dringend mal einen handlichen Taschenkalender bräuchte, damit sie nicht alle Termine immer auf Zettelchen schreiben muss.

Dieser eine Samstag aber, der ist fix, da hilft sie ehrenamtlich im kleinen Shop der Gedächtniskirche aus. Sie springt dort häufig ein, die Kirche ist, obwohl sie doch in Spandau wohnt, „ihre“ Kirche, sie liebt die blauen Fenster des Glaskünstlers Gabriel Loire und die große Christusfigur. Wenn sie in den Gottesdienst geht, dann hier.

An diesem Samstag trägt Frau Zündorf wieder ihren Hut und auf der Nasenspitze eine rot gerahmte Lesebrille. Sie sitzt hinter der kleinen Ladentheke und sortiert Quittungen. Immer mal wieder hat sie ein paar Minuten Zeit zu sprechen, dann kommt sie hinter der Theke vor, lächelnd, und eilt ebenso freundlich wieder dahinter, wenn jemand eine Frage hat oder ein Souvenir kaufen möchte. Frau Zündorf umgeben von Menschen, das passt.

„Ich hab immer Angst, ich hab zu wenig zu tun“, sagt Brigitte Zündorf.

Und Erika Hyn schreibt in einer E-Mail: Im Moment ist mal wieder viel los und meint: ein Glück.

Nicht einen Moment bereut

Im Juli 2012 zog Erika Hyn, 67 Jahre alt, aus Stuttgart nach Köpenick, um gemeinsam mit Freunden eine Altershausgemeinschaft zu gründen. Im Grünen, mit Wasser vor der Tür und der großen Stadt im Rücken. Auch kein Entschluss, den man leichtfertig fällt, jahrelang haben sie immer mal wieder darüber gesprochen. Einerseits war es ein nahe liegender Gedanke, denn Hyn und ihre Freundin Sibylle waren schon einmal Mitbewohnerinnen gewesen, zwischen 1977 und 1983 in Stuttgart. Andererseits war es auch abenteuerlich: nach 40 Jahren in Baden-Württemberg alles noch einmal umsortieren?

„Ich hatte noch nicht einen Moment, an dem ich dachte: Was hast du gemacht?“, sagt Erika Hyn. Schließlich waren auch nicht bloß die Freundin und deren Mann, der wohltuende Gedanke, im Alter nicht allein zu sein, ausschlaggebend für ihre Entscheidung. „Dass ich hergezogen bin, hängt auch mit Berlin zusammen“, sagt Erika Hyn. „Ich mag die Stadt einfach.“

Möglichst nicht in ein Altersheim müssen

Sie kaufte die Wohnung im Erdgeschoss des herrschaftlich schönen Hauses an der Dahme, das sie nun zu dritt bewohnen – Erika Hyn, ihre Freundin Sibylle und deren Mann. In den großen Gemeinschaftsraum mit den kleinen Erkern strahlt an diesem Wintertag die Sonne, manchmal sitzen sie dort zusammen und frühstücken. Dass dieses Haus vor vielen Jahren mal ein Hotel war, macht ihre Vision des gemeinsamen Wohnens im Alter besonders charmant.

Längst haben sie auch prüfen lassen, ob man später mit einem Rollstuhl ins Haus gelangen kann (kann man) oder ob es möglich wäre, einen Treppenlift einzubauen (ist es). Möglichst nicht in ein Altersheim müssen, so haben sie sich das gedacht und Platz geschaffen für noch eine weitere Person. Den alten Mitbewohner aus Stuttgart haben sie bereits gefragt. Jochen, hast du Lust? Ne, sagte Jochen, dann muss ich mir ja einen neuen Hausarzt suchen.

Erika Hyn, das graue Haar kurz geschnitten, eine kräftige Brille im Gesicht, hat sich in etwas über einem Jahr ihr neues Leben als Berlinerin gut zusammengepuzzelt. Sie ist Lesepatin an einer Schule in Friedrichshagen und besucht Veranstaltungen der Seniorenuniversität pro seniores in Mitte. Ihr Plan: Ein richtiges Studium beginnen, Politik und Geschichte. Aber nur kein Stress. Mal sehen.

Zuzug Älterer? Ein Wunschdenken. Und warum auch nicht!

Geboren in Solingen, ließ sich Erika Hyn zur Erzieherin ausbilden und arbeitete später in Grundschulförderklassen, bis zum letzten Tag sehr gern. „Aber ab dem ersten Tag bin ich auch sehr gern pensioniert gewesen“, sagt sie und lacht. Auch darüber, dass sie sich immer noch freuen kann, wenn sie sehr spät ins Bett geht im Bewusstsein: kein Wecker klingelt mehr um halb sechs am Morgen!

Erika Hyn hat in ihre Küche gebeten, der Blick durchs Fenster geht hinaus ins Grüne. Berlin, das war für sie schon immer eine Mischung aus Grün, Wasser und Stadt, bei jeder Landung auf dem Flughafen Tegel von oben neu zu betrachten. Insofern hat sie sich nun das Beste von allem gesucht. Ruhe und Rummel. Wald mit S-Bahn-Anschluss.

Sie steht auf, weil ihr Telefon klingelt. Keine Zeit für ein Gespräch jetzt, ja, aber bald. Eine Freundin war am Apparat, mit ihrem Mann will sie demnächst nach Berlin ziehen, nach Neukölln, der erwachsene Sohn lebt dort.

Jährlich ist die größte Gruppe der Zuzügler die der 20- bis 30-Jährigen, von den Senioren über 65 ziehen laut Statistik noch immer mehr fort als her. Bei den paar tausend, die in jedem Jahr kommen, sind die Gründe für den Umzug so unterschiedlich, dass als kleinster gemeinsamer Nenner allein das kulturelle Angebot infrage kommt.

Als Rentner raus aus der Kleinstadt

Die Eheleute Reinhild und Eberhard Neumann-von Meding, beide Anfang 70, zogen 2006 aus Bückeburg bei Hannover nach Berlin und in Frau Hyns Köpenicker Nachbarschaft. Als Rentner wollten sie raus aus ihrer Kleinstadt, in der sie jeden kannten – und jeder sie. Sie wünschten sich Zeit und Gelegenheit, sich der Musik zu widmen. Er spielt nun Kontrabass in einem Orchester, sie Cello in einem Kammermusikkreis. Zwischen München, wo die Tochter wohnt, und Berlin, fiel die Entscheidung schließlich zugunsten der Hauptstadt.

Die Immobilienpreise nach der Wende waren günstig und für vier Kinder und acht Enkelkinder jedes Alters bietet die Stadt genug. Eberhard Neumann-von Meding, der pensionierte Gynäkologe, ist Schriftführer der „Berliner Medizinhistorischen Gesellschaft“, und wo wäre er besser aufgehoben mit so viel Interesse für dieses Spezialgebiet als hier?

Die pensionierte Deutsch- und Sportlehrerin Giesela Cornelius, 68, aus Schleswig-Holstein brach lange nach dem Tod ihres Mannes und sofort nach ihrer Entlassungsfeier in Richtung Berlin auf, mit nichts weiter als zwei Billy-Regalen voller Bücher. Aus einem Haus nahe Hamburg zog sie in eine Reinickendorfer Einzimmerwohnung. „Ein Rentner muss was um die Ohren haben“, sagt sie und: „Hier hat mich die Kultur erwischt.“

Leben und leben lassen

Dabei gibt es auch zu Giesela Cornelius und Berlin einen Prolog, 1971. Als junge Lehrerin war sie kurz in der Stadt, um festzustellen: die Schulen, die Schüler, das Unterrichten – unmöglich. Aber wie herrlich war doch Berlin, schon der erste Tag am Ku’damm! Da lief eine große schwarze Frau über den Gehsteig, in einem Kleid aus lila Chiffon und nichts darunter. Leben und leben lassen, das war für sie Berlin, und das tut sie jetzt. Sie nimmt nun Klavierstunden, was sie immer wollte, und hat in Berlin, mit 68 Jahren, die klassische Musik für sich entdeckt.

So könnte es weitergehen.

Ihnen allen ist Berlin Kindheitsliebe oder alte Bekannte, Dschungel oder Museum, ein Versprechen jedenfalls für einen Abschnitt des Lebens, in dem – endlich – getan und gelassen werden kann, was immer man will. Carmella Pfaffenbach, die Kulturgeografin, glaubt, dass sich die These vom anschwellenden Zuzug Älterer vor allem deswegen hält, weil die Städte das gern so hätten. Ein Wunschdenken also und warum auch nicht.

Wenn Brigitte Zündorf mal ausnahmsweise nichts vorhat, dann setzt sie sich in einen Bus, schaukelt durch die Gegend und lässt sich überraschen, wo sie landet. Neulich war das der Saatwinkler Damm, im Norden von Charlottenburg. Und wie ist es da, Frau Zündorf? „Schön grün.“

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