Präsenzpflicht an Berliner Schulen aufgehoben: Richtig und überfällig – aber auch ein billiger Ausweg
Der Senat hebt die Präsenzpflicht an Berlins Schulen auf. Eine Schulschließung bedeutet das nicht. Ein wichtiger Unterschied. Ein Kommentar.
Es ist ein enormer Schwenk, den Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse am Montag vollzogen hat – weil sie ihn vollziehen musste. Die Präsenzpflicht an den Schulen ist ausgesetzt, ab sofort und zunächst bis Ende Februar.
Bis zuletzt waren Busse und die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey strikte Verfechterinnen der Präsenzpflicht. Doch gegen den jüngst noch einmal gewaltig gewachsenen Druck aus der Elternschaft, vorgebracht zum Beispiel von elf der zwölf Bezirkselternausschüsse, war diese nicht mehr durchzusetzen.
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Die Inzidenzen bei Kindern sind in Berlin in irrwitzige Höhen geklettert, dazu kam am Wochenende ein großes Chaos, ausgehend von der Ankündigung der Berliner Amtsärzte, künftig an Schulen nicht einmal mehr Kontaktpersonen in Quarantäne schicken zu wollen. Als am Montag der Schultag begann, war unklar, was überhaupt gilt. Keine Quarantäne mehr, aber Präsenzpflicht? Die Situation wurde immer absurder.
Busse hatte von Tag zu Tag mehr zu verlieren
Senatorin Busse hat nun den Ausweg gesucht aus einer Lage, in der sie von Tag zu Tag mehr zu verlieren hatte. Geholfen haben wird das Vorgehen des Linken-Fraktionschefs Carsten Schatz. Er hatte Busse eine goldene Brücke gebaut, indem er öffentlich darauf hinwies, das Korrigieren einer Position in dieser schwierigen Situation sei keine politische Niederlage.
Ihre Entscheidung ist richtig, und sie war überfällig. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass eine Aufhebung der Präsenzpflicht etwas ganz anderes ist als eine Schulschließung. Sie schafft in erster Linie für jene Eltern Entlastung, die sich gut um ihre Kinder kümmern, die voller Sorgen sind angesichts des rasanten Infektionsgeschehens – und die zur Entspannung der Lage für alle beitragen können, indem sie ihre Kinder nun zu Hause lassen. Im besten Fall werden so Ressourcen frei, damit die Schulen sich um jene Kinder kümmern können, die zu Hause eben nicht gut aufgehoben wären und deren Schicksal niemals aus dem Blick geraten darf.
Insgesamt ist und bleibt die Lage an den Schulen dramatisch. Ob es um Luftfilter oder um digitale Infrastruktur geht: An allen Fronten fehlen die Voraussetzungen für einen vernünftigen Schulbetrieb unter Pandemiebedingungen. Monatelang wurde das alles verschleppt, weil es für die Verantwortlichen der bequemere Weg war, nur immer wieder zu betonen, die Schulen würden dieses Mal aber wirklich offenbleiben, und zwar vollständig in Präsenz.
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Dabei ist ein regulärer Betrieb längst nicht mehr gegeben. In manchen Klassen sind noch zehn Kinder anwesend, die übrigen 15 sitzen auf sich gestellt zu Hause. In der Senatsstatistik zählt das als regulär beschulte Lerngruppe. Die zahlenmäßigen Ausfälle bei Lehrer:innen und Erzieher:innen sind enorm, vor Sekretariaten sitzen weinende Kinder, die nach einem positiven Schnelltest darauf warten, von ihren Eltern abgeholt zu werden.
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Das Personal hat das alles irgendwie zu managen, hier kommen Wut, Frust und Verzweiflung der Eltern ungefiltert an. Doch in den Schulen arbeiten keine robusten UN-Peacekeeping-Truppen, sondern Pädagog:innen, von denen seit bald zwei Jahren weit mehr verlangt wird als statthaft wäre. Sie werden ins Risiko geschickt, auch die Älteren, auch die Vorerkrankten.
Natürlich gibt es bei ihnen (Durchbruchs-)Infektionen, und nicht alle davon enden gut. Es ist ein Wahnsinn, dass das sogar beim jetzigen Infektionsgeschehen als selbstverständlich zu erbringendes Opfer vorausgesetzt wird.
Und auch für die Eltern ist die Zwangslage groß wie nie. Sie haben durch die Aufhebung der Präsenzpflicht in gewissem Umfang das Recht, Kinderkrankengeld zu beziehen und sich, falls sie Angestellte sind, von der Arbeit freistellen zu lassen. Doch in vielen Betrieben dürfte das Wohlwollen von Chefinnen und Kollegen aufgebraucht sein, von den besonderen Problemen Selbstständiger ganz zu schweigen.
Auch löst die Regelung nicht das Grundproblem - nämlich, dass mit der Aufhebung der Präsenzpflicht noch lange keine digitale Beschulung der zu Hause bleibenden Kinder funktioniert. Es wurde nicht vernünftig für den nun eintretenden Fall geplant, und das wird wieder einmal nicht nur Lehrer:innen, sondern auch Eltern übermäßig belasten. Insofern ist die aktuelle Entscheidung für die Politik auch ein billiger Ausweg. In der Bund-Länder-Runde ging es am Montag unterdessen um „Öffnungsperspektiven“. In den Ohren vieler an der Schulfront dürfte das wie Hohn klingen.
Anmerkung: In einer ersten Version des Textes hieß es, die Eltern seien im Beruf trotz des Aussetzens der Präsenzpflicht weiter voll in der Pflicht. Wir haben diese Passage korrigiert.
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