Späte Landlust: Rentner aus Berlin zieht es nach Brandenburg
Sie waren schon 70, da haben sie ein Haus gekauft im Oderbruch und sind von Berlin weggezogen. Viele Ältere entdecken eine späte Landlust in Brandenburg und stellen fest: Hier kann man sich nützlich machen.
Beim Auspacken der Umzugskisten ist den beiden aufgefallen: Sie sind alte Leute, und nach Lage der Dinge würde sich daran auch nichts mehr ändern. Die Umzugskisten waren voller Bücher, die meisten davon bereits gelesen, etliche aber auch nicht. Die ungelesenen verlangten danach, endlich zur Kenntnis genommen zu werden, die gelesenen forderten ein zweites Mal.
Bloß wann sollte das passieren? Haben wir noch die Zeit dafür? Luise und Götz Bernau beschlossen sofort, diese beiden Fragen mit „zukünftig“ und mit „ja“ zu beantworten. Es blieb ihnen dann nur noch zu klären, wie sie das bewerkstelligen sollten, und ebenso rasch fassten sie dann den Entschluss, fortan auf eine Maschine zu verzichten, die sie ohnehin schon eine Weile als Zeittotschläger verdächtigten: den Fernseher.
Nun, eineinhalb Jahre später, sitzen sie hier in ihrem Wohnzimmer, in dem die Bücher mittlerweile die Wände füllen, es gibt ein Lesepult, wie auch Goethe eines hatte, und sie machen einen zufriedenen Eindruck. Wenn es stimmt, dass Bücher besser sind als Fernseher, haben die beiden ein schöneres Leben als zuvor.
Rentner - der Schrecken der Demografie
Die Bernaus. Sitzen in ihrem Haus und sind alt und grauhaarig. Senioren sind sie, so lautet die um sich greifende, kopftätschelnde Sprachregelung. Meistens benutzt von Jüngeren, die damit wohl das Wort „Alte“ umgehen wollen, gleichzeitig irgendeine Art von Verständnis für die Last der vielen Jahre heucheln; in Wahrheit aber zeigen sie doch eher ihr Mitleid und ihre Verachtung. Senioren sind immer die anderen. Oder Rentner, die wegen ihrer großen Zahl die politischen Parteien vor sich hertreiben. Die nur an ihre eigenen Interessen denken und zwischendurch auf Harley-Davidson-Kopien die Straßen im Hinterland von Mallorca verstopfen, ansonsten die deutschen Supermarktkassen. Wenn sie gesund sind, nennt man sie rüstig.
Vor allem aber: Sie sind der Schrecken der Leser und Auftraggeber demografischer Studien. Das Land wird immer älter, der Osten sowieso, und dessen Ränder am schnellsten. Ein Problem! Eine Herausforderung! Wir müssen in den nächsten Legislaturperioden rollatorenfreundliche Gehwege bauen!
Und dann sitzen diese Bernaus zufrieden in ihrem fernseherlosen Wohnzimmer im Oderbruch-Dorf Neumädewitz, dessen Altersdurchschnitt sie mit ihrem Herzug in die Höhe getrieben haben. Durchs Fenster schauen sie auf den Friedhof und auf Polen, und trotz der Bücher haben sie in der kurzen Zeit ihres Hierseins Sachen hinbekommen, an die die Jüngeren hier vorher nicht einmal gedacht hatten.
Götz Bernau sagt: „Naja, wir wollen mal nicht übertreiben.“ Sie haben vor drei Jahren – beide waren sie gerade 70 geworden und hatten mehr als vier Jahrzehnte in Berlin gewohnt – ein aufgegebenes Haus am Ostrand Brandenburgs gekauft und richten es allmählich wieder her. Seitdem 2012 die Heizung drin war, leben sie hier. Sie haben Quitten und Stachelbeeren in den Garten gepflanzt.
Das Durchschnittsalter der Berliner wird bis zum Jahr 2030 um 1,9 Jahre steigen , das der Brandenburger um sieben.
Luise Bernau ist im Kirchenförderverein. Götz Bernau spielt regelmäßig Geige in den umliegenden Dorfkirchen, die voll werden, wenn er kommt, und er sammelt dabei Spenden für gute Zwecke. Sie sind einer Bürgerinitiative beigetreten, aus der mittlerweile eine Wählervereinigung geworden ist. Er ist einer der Initiatoren einer Tanzteeveranstaltung einige Kilometer weiter. Sie machen sich nützlich.
Neulich hat es wieder eine dieser Studien gegeben. Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen hat herausfinden lassen, dass das Durchschnittsalter der Berliner bis zum Jahr 2030 um 1,9 Jahre steigen wird, das der Brandenburger um sieben. Die Zahl für den Landkreis Märkisch-Oderland, in dem das Oderbruch liegt, ist noch größer, hier ist von neun Jahren die Rede. Lag der Altersdurchschnitt im Jahr 2010 bei ungefähr 46 Jahren, werden es 2030 55 sein.
Ähnliche Untersuchungen aus den vergangenen 20 Jahren kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Und überall, in all diesen Broschüren und Büchern voller Tabellen und Grafiken sind die Sorgenfalten über diese Entwicklung mitgedacht.
Götz Bernau ist Geiger und war Konzertmeister in verschiedenen Orchestern, zuletzt bei den Berliner Symphonikern. Heute ist er freiberuflicher Musiker. Luise Bernau betreibt eine kleine Konzertagentur und hat die Kinder erzogen. Zuletzt lebten sie in Wedding, in einer 140-Quadratmeter-Wohnung, fünfter Stock, 104 Stufen, oben drüber war noch ein 120 Quadratmeter großer Dachgarten. So, wie sie darüber berichten, klingt es nach sehr schönem Wohnen.
Was sie suchten? Landschaft
Wer sie fragt, was sie dann eigentlich hier gesucht und was sie gefunden haben, bekommt „Landschaft“ zur Antwort. „Wir saßen vor drei Jahren am Berliner Küchentisch und redeten“, sagt Götz Bernau. „Sollen wir nicht aufs Land ziehen?“ Es muss eine rhetorische Frage gewesen sein, denn der Entschluss war genauso schnell gefasst wie der mit dem Fernseher. Ja, aufs Land, und zwar jetzt.
Die einzigen Bedingungen, die sie einander dafür gestellt haben, waren ein Krankenhaus, was sich in der Nähe befinden sollte, ein Bahnhof und ein gewisser Renovierungsbedarf. Götz Bernau wollte handwerkern. Sie gaben ein Inserat auf, zwei Wochen vergingen, und das Haus in Neumädewitz war gefunden.
Die Bernaus kannten den Ort nicht, aber sie kannten das Oderbruch. Sie gehörten zu jenem West-Berliner Milieu, das nach dem Mauerfall an jedem Wochenende seine Sachen gepackt hat und hinaus ins Umland gefahren ist. Sie waren neugierig und wollten Orte endlich mit eigenen Augen sehen, deren Geschichte sie bislang nur vom Lesen kannten.
Das Oderbruch: eine 60 Kilometer lange, bis zu 20 Kilometer breite, flache Landschaft. Nur wenige Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Immer gefährdet vom namensgebenden Fluss, dem es in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch Eindeichung abgerungen wurde, und seitdem nur dazu da, besiedelt zu werden. Damals von Bauern, so war es vorgesehen, und so geschah es auch. Heute von jedem, der her will, ein Haus zum Wohnen findet, es sich leisten will und kann.
Die Besiedlung wird möglicherweise erleichtert durch Alteingesessene, die Fremden gegenüber nicht übermäßig skeptisch zu sein scheinen. Luise Bernau sagt: „Kaum waren wir hier, bin ich zum Altentreff eingeladen worden.“ Als sie etwas später im örtlichen Bürgerhaus Goldene Hochzeit feierten, kam der Dorfchor und sang. Irgendwann einmal habe sie einen Neumädewitzer gefragt, wo man hier ein Taxi herbekäme, für den Notfall, „und dann habe ich Empörung geerntet.“ „Sie haben doch Nachbarn“, habe der gesagt. Nachbarn, die von draußen durchs Fenster die vielen Bücher gesehen haben, dann zur einsam und abgelegen in Neumädewitz wohnenden Professorenwitwe gegangen sind und ihr von den Neuen berichteten. „Die haben genauso viele Bücher wie Sie, gehen Sie doch mal hin.“
Es ist nicht so, dass sie nicht auffallen würden, die Neusiedler, die Musiker, Künstler und Kunsthandwerker. Es gibt etliche dieser in die Jahre gekommenen Weltläufigen hier im Oderbruch, aber keiner weiß, wie viele sie sind und ob sie hier – verglichen mit anderen abgelegenen Gegenden – überdurchschnittlich oft herziehen. Es gibt aber Anhaltspunkte dafür.
Die Studenten der Kunsthochschule Berlin-Weißensee zum Beispiel haben zu DDR-Zeiten jahrelang ihre obligatorischen Ernteeinsätze im Oderbruch abgehalten. Sie kannten die Landschaft also, und als sie irgendwann einmal ein paar tausend DDR-Mark zusammen hatten, um sich eines der hiesigen Gehöfte zu kaufen, haben etliche von ihnen das getan. Man kann hier durch die Dorfstraßen laufen und hört nicht nur Rasenmäherlärm, sondern auch alte Leute Fontane zitieren. Oder Friedrich den Großen.
Sie haben sich der Wählergemeinschaft „Weitblick“ angeschlossen. Sie wird bei den Kommunalwahlen antreten
Um das Geringste zu sagen: Sie schaden hier nicht. Sie haben nämlich Erfahrung. Und wenn sie nur dazu gut ist, dem Nachbarn eine ihm von Baufirmen aufgeschwatzte Wärmedämmung am Haus wieder auszureden, weil die doch ohnehin nur das alte Fachwerk darunter verfaulen ließe, dann hat sich ihre Anwesenheit hier volkswirtschaftlich gesehen schon gelohnt.
Sie helfen mit, damit hier etwas entsteht, was sie selber vielleicht am meisten vermissen im Oderbruch: eine kritische Masse. Widerspruch. „Bürgersinn“, sagt Luise Bernau dazu. Man hat eine irgendwie vernünftig, aber eben auch neu klingende Idee, und „ja, wer soll das denn machen?“, das höre sie hier oft. Sie schaut jetzt angriffslustig, und es kann sein, dass sie diese Erfahrung auch in ihren Berliner Jahrzehnten gemacht hat, damals aber zu beschäftigt gewesen ist, um sich damit auseinanderzusetzen. Fehlender Bürgersinn ist oft keine Frage von Stadt oder Land, sondern eine Frage des Alters.
Die Bernaus haben sich also der Wählergemeinschaft „Weitblick“ angeschlossen. Ende Mai sind in Brandenburg Kommunalwahlen, und „Weitblick“ wird antreten.
An einem Freitagabend im April sitzt ein gutes Dutzend Kandidaten und Unterstützer im Gasthof „Alte Bäckerei“ in Altreetz. Sie debattieren über den Inhalt einer Wahlzeitung, über die Frage, wie sie in den verbleibenden fünf Wochen noch ein wenig bekannter werden können und darüber, welche ihrer Kernthemen sie bis dahin noch deutlicher machen müssen.
Die Kernthemen sind zum großen Teil Fragen: Sind Großmästereien, die auch hier längst entstanden sind, wirklich der Weisheit letzter Schluss? Sind Windräder – ja, vor ihrer eigenen Haustür – wirklich schon allein deshalb vernünftige Maschinen, weil alle per Gesetz dazu gezwungen sind, sie zu bezahlen? Warum wird der Tourismus hier so vergleichsweise gering geschätzt? Muss es tatsächlich so sein, dass in Gemeinderatssitzungen die wichtigen Themen stets hinter verschlossenen Türen verhandelt werden?
Es geht den ganzen Abend über konzentriert und sachlich zu im Gasthof. Das liegt an Udo Schagen, er ist der Versammlungsleiter. Auch er hat wie die Bernaus graue Haare, auch er ist aus dem Westen Berlins hergezogen. Auch er hat Ehrenämter inne, doch mehr als sie, denn er lebt schon länger hier im Oderbruch, seit einem Jahrzehnt. Auch er spielt Geige, von Beruf aber ist er Medizinhistoriker gewesen. Bis heute arbeitet er als Gastwissenschaftler an der Freien Universität.
Er legt Wert auf die Feststellung, dass „Weitblick“ keine Zugereisteninitiative ist, die allermeisten der Mitglieder stammen von hier. Er helfe nur.
Beim Spaziergang verliebten sie sich in das Haus
Im Grunde, sagt Schagen, haben seine Frau und er nie aufs Land gewollt. Es sei bei einem Spaziergang durch das Dorf Altwustrow passiert, da habe auf einmal ein Haus gestanden, unten Feld-, oben Backstein, und Schagens Frau habe halb im Spaß gesagt: Wenn irgendwann mal aufs Dorf, dann dort rein. Einige Wochen später hörten sie: Das Haus werde versteigert. „So kam’s“, sagt Schagen.
Er hat ein paar „großpolitische Ideen“ mitgebracht aus Berlin, sagt er. Andere sind ihm hier erst gekommen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Stadt und das umgebende Land wieder eine Einheit bilden würden? Er spricht von „Gärten der Metropolen“, davon, wie es früher schon einmal war, als das Oderbruch Berlin mit Essen versorgte, und nicht die halbe Welt. Und Berlin sich noch nicht von der halben Welt mit Essen versorgen ließ. Er möchte, dass das Oderbruch bei seinen Nachbarn wieder ein Gesicht bekommt, einen Namen, und wenn die Leute in Berlin ihn nur damit verbinden, dass von dort ihre Kartoffeln kommen. Deshalb fände er eine „Transportsteuer für landwirtschaftliche Produkte sinnvoll“, sagt er. Und gleich danach: „Aber da kann man nur von träumen.“
Der zugereiste Alte ist jung geblieben
Also macht er sich ans Naheliegende. In einem kurzen Text in der „Weitblick“-Zeitung wird er davon schreiben. Im ersten Manuskript dazu berichtet er von „Mutlosigkeit“, auf die er hier immer wieder gestoßen sei. Von beobachteter „Ohnmacht gegenüber politischen Entscheidungen“ bei Feldwegen, die gesperrt wurden, bei Baumfällungen, beim „Verfall von das Dorf prägenden Bauten“, „vor allem aber ging es um die Nichteinbeziehung der Bürger vor Beschlüssen zu eingreifenden Änderungen unserer Lebensumwelt“.
Schagens Sätze beschreiben seine Oderbruch-Gemeinde als demokratisches Niemandsland, mit dem er nicht einverstanden ist. Genau diese Haltung belegt, dass er – der zugereiste Alte aus der großen Stadt – jung geblieben ist.