Gastbeitrag: Religiöse Menschen sind nicht automatisch toleranter
Religiöse Ungebundenheit führe zum Verfall ethischer Werte, ist immer wieder zu hören. Eine steile These, findet unser Gastautor, der Humanist Bruno Osuch. Er meint: Die Lage ist komplexer.
Islamistischer Terror, Pegida-Demos und latenter bis offener Antisemitismus haben eine heftige Diskussion über die Frage ausgelöst, was man im Bereich kultureller und ethischer Bildung tun kann, um sich besser gegen diese in die Mitte der Gesellschaft drängenden Randerscheinungen zu wappnen. Dabei taucht immer wieder die These auf, dass religiöse Ungebundenheit zum Verfall ethischer Werte, zu Intoleranz und Vorurteilen führe. Andersherum hieße das, dass eine fundierte religiöse Bildung und Erziehung eine gute Grundlage für Toleranz und Respekt seien. Dies ist eine steile These, in der zudem eine gehörige Portion Überheblichkeit gegenüber Konfessionsfreien steckt. Stellen wir sie dennoch einmal auf die Probe.
In den USA sind die meisten Intellektuellen säkular orientiert
Ein Großteil der Intellektuellen in den USA, der Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler ist eindeutig säkular beziehungsweise humanistisch orientiert. Ähnliches gilt auch für England oder Frankreich. Aber niemand käme auf die Idee, religiös unmusikalischen Menschen wie Philip Roth oder Jonathan Franzen, Audrey Tautou und John Cleese, Stephen Hawkins oder Jürgen Habermas mangelnde ethische Wertefestigkeit oder fehlende Toleranz oder Liberalität vorzuwerfen.
Gleichzeitig ist in den USA die religiöse Rechte für ihre extrem antiliberalen Thesen bekannt. Die besonders religiöse Tea Party-Bewegung hetzt in Amerikas Bible Belt gegen Minderheiten aller Art, gegen Feminismus und Wissenschaft. Mehr noch: Heerscharen evangelikaler Missionare aus den USA sind in Teilen Afrikas mitverantwortlich für die dort gefährlich zunehmende Homophobie.
Aber zurück nach Berlin: Hier sind bekanntlich über zwei Drittel der Menschen konfessionsfrei. Eine große Mehrheit der Menschen in Berlin bekennt sich zu Toleranz, Selbstbestimmung und Verantwortung, die ethischen Werte des Humanismus. Kurzum: Weder gilt der Schluss, dass Religiosität automatisch vor Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz schützt, noch gilt umgekehrt, dass eine fehlende religiöse Musikalität automatisch zu Werteverlust und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit führt.
Nicht die Religion, sondern Bildung und Wissen über das Andere stärken die Toleranz
Die Problematik ist komplexer. Neben sozialer Stabilität und wirtschaftlicher Perspektive dürften vor allem auch eine umfangreiche Bildung sowie das persönliche Kennenlernen verschiedenster Religionen, Weltanschauungen und Kulturen zentrale Voraussetzungen für Toleranz und Liberalität sein. Das belegen jedenfalls fast alle einschlägigen Studien. Genau deshalb hat das Land Berlin 2006 das Berliner Modell eingeführt: Zusätzlich zum bereits existierenden freiwilligen Unterricht in Religion und Humanistischer Lebenskunde wurde erstmals in Deutschland ein verbindliches Schulfach Ethik eingeführt. Nur so haben die Jugendlichen überhaupt die Chance, die ethischen, weltanschaulichen und religiösen Grundfragen, die sie einzeln mit sich tragen und pflegen, auch gemeinsam zu reflektieren. Das Lernen und Sprechen miteinander ist tausendmal sinnvoller als das Reden übereinander. Nur wer lernt, sich im Dialog mit anderen friedlich auseinanderzusetzen, der kann auch Toleranz und Respekt einüben.
Und nicht zuletzt: Eines der zentralen Anliegen dieses Ethikunterrichtes ist es, dass Kinder und Jugendliche überhaupt ein umfangreiches Grundwissen über die verschiedenen Religionen, Weltanschauungen und Kulturen dieser Welt erhalten. Er trägt also zur religiös-weltanschaulichen Mündigkeit bei. Mehr noch, dieser gemeinsame Unterricht vermittelt das respektvolle Miteinander, die Fähigkeit zuzuhören und ermöglicht den Perspektivwechsel. Miteinander statt übereinander reden, das stärkt die tolerante und friedliebende Gesellschaft. Religiöse und weltanschauliche Eitelkeiten gilt es hinter dieses Ziel zurückzustellen. Für ein tolerantes und respektvolles Miteinander ist nicht der persönliche Glaube oder Unglaube entscheidend, sondern das wohlwollende und ideologiefreie Interesse am Anderen.
Der Autor ist Pädagoge und Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) in Berlin und Brandenburg.
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