Holocaust-Gedenktag: Reich-Ranicki und die Schrecken im Warschauer Ghetto
Nicht als Historiker wollte Marcel Reich-Ranicki im Bundestag bei der Gedenkstunde zum 67. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz sprechen, sondern als Zeitzeuge. Das tat er auf beeindruckende Weise.
"Die Aussiedlung aus Warschau hatte nur einen Zweck - nur ein Ziel: den Tod." Danach herrscht Stille im Plenum des Deutschen Bundestags. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis sich der Erste regt. Das ist Bundespräsident Christian Wulff. Er geht nach diesem Schlusssatz auf Marcel Reich-Ranicki zu und bedankt sich für seine beeindruckende Rede. Erst dann erheben sich die Mitglieder des Bundestags und klatschen. Es ist kein lautes Klatschen, eher ein gedrücktes, respektvolles, leises Klatschen.
Reich-Ranicki betonte, dass er nicht als Historiker spreche, sondern als Zeitzeuge. Als Deutsch-Übersetzer beim "Judenrat" im Warschauer Ghetto habe er "das Todesurteil diktiert, dass die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte". Das Warschauer Ghetto wurde durch die SS ab dem 22. Juli 1942 schrittweise aufgelöst und die Bewohner in Vernichtungslager geschickt, vor allem in das Konzentrationslager Treblinka. Der 91-Jährige Reich-Ranicki wuchs in einer deutsch-polnischen jüdischen Familie auf und überlebte die Gefangenschaft im Warschauer Ghetto. Er erinnert an die Folgen der Deportation und die Gräueltaten der Nazis. Er berichtet wie jeden Tag Letten, Litauer und Ukrainer das Lager stürmten und die Juden zusammentrieben. Seine Stimme ist an manchen Stellen beinahe still. Die körperliche aber auch die seelische Anstrengung ist Reich-Ranicki anzumerken.
Zu der am 22. Juli 1942 begonnenen Deportation der Juden aus Warschau sagte er: "Was die ,Umsiedlung' der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung - die Aussiedlung aus Warschau." Reich-Ranicki ist einer der letzten Zeitzeugen des Warschauer Ghettos. Sein Bruder und seine Eltern wurden von den Nazis ermordet. Die Rede von Reich-Ranicki finden Sie hier im Wortlaut.
Zuvor hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zum Holocaust-Gedenktag Bürger gewürdigt, die sich gegen Rechtsextremismus und Neonazi-Umtriebe engagieren. "Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und Mut machen", sagte er. Lammert erinnerte an die im vergangenen Herbst aufgedeckte Neonazi-Mordserie. Diese Gewalt und dieser Hass seien nicht zu akzeptieren, sagte er. Der Parlamentspräsident wies auch darauf hin, dass nach aktuellen Untersuchungen 20 Prozent der Bundesbürger latent antisemitisch eingestellt seien. "Das sind in Deutschland genau 20 Prozent zu viel", sagte er.
An der Gedenkveranstaltung nahmen auch Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) und der Präsident des Verfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, teil.
Am Holocaust-Gedenktag wird weltweit der Opfer der Judenverfolgung durch die Nazis gedacht. Am 27. Januar 1945 waren die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit worden. Auschwitz steht symbolhaft für den Völkermord und die Millionen Menschen, die vom Nazi-Regime verfolgt und umgebracht wurden. Seit 1996 erinnert auch der Bundestag jährlich in einer Gedenkstunde an die Befreiung des Vernichtungslagers. (dpa/Tsp)