zum Hauptinhalt

Russische Dominanz in der Ukraine: Putins Konzept der „Russischen Welt“ als Rechtfertigung für den Krieg

Nach dem Scheitern des Angriffs auf Kiew geht es Russland um die vollständige Eroberung von Donezk und Luhansk. Dahinter steht eine politische Ideologie.


Die Warnungen westlicher Geheimdienste werden immer lauter, im Osten der Ukraine stehe eine Großoffensive der russischen Truppen unmittelbar bevor. Die Umgruppierung der Einheiten sei abgeschlossen, ein neuer Befehlshaber wird die Operation führen.

Nach dem Scheitern des Angriffs auf die Hauptstadt Kiew geht es jetzt um die vollständige Eroberung der Regionen Donezk und Luhansk. Sogar den Einsatz taktischer Atomwaffen schließen einige Experten nicht mehr aus. Russlands Präsident Wladimir Putin braucht einen Sieg. Und er braucht ihn rasch, denn am 9. Mai soll wie in jedem Jahr ein anderer Sieg gefeiert werden: der über den deutschen Faschismus vor 77 Jahren.

Die beiden Regionen Donezk und Lugansk spielen seit anderthalb Jahrzehnten eine zentrale Rolle in dem Konzept der „Russki Mir“ („Russische Welt“). Der russische Präsident Wladimir Putin definierte es schon 2006 bei einem Treffen mit Kulturschaffenden: „Die russische Welt kann und muss alle vereinen, denen das russische Wort und die russische Kultur teuer sind, wo immer sie auch leben, in Russland oder außerhalb.“

Das klingt zunächst nach einem kulturellen Auftrag, doch schon zwei Jahre später wurde „Russki Mir“ zu einer politischen Ideologie, die den Krieg gegen Georgien rechtfertigte.

Kalschnikow statt Kalinka

Doch vor allem in der Ukraine sollte deutlich werden, dass es bei „Russki Mir“ nicht um Kalinka ging, sondern um Kalaschnikow. „Wo wart ihr acht Jahre lang?“, lautet einer der zentralen Sätze der Kreml-Propaganda, um den am 24. Februar begonnenen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

Dahinter steht die Behauptung, der Westen habe acht Jahre lange weggeschaut, als die Ukraine versucht habe, alles Russische in den Gebieten Donezk und Luhansk, also die „Russki Mir“ zu vernichten. Der russische Angriff sei die letzte Möglichkeit gewesen, einen Genozid zu verhindern.

Pro-russische Truppen fahren auf die Stadt Mariupol zu.
Pro-russische Truppen fahren auf die Stadt Mariupol zu.
© REUTERS/Chingis Kondarov

Tatsächlich kehrt die russische Propaganda hier das Verhältnis von Täter und Opfer um. Vor acht Jahren, 2014, begann Russland den militärischen Teil eines Krieges, der mit anderen Mitteln schon viele Jahre vorher geführt wurde. Einen ersten Höhepunkt erlebte er mit den Präsidentenwahlen 2004.

Kurz vorher hatte Putin dem US-Präsidenten George Bush in einem Gespräch seine Sicht erklärt: „Was ist die Ukraine? Ein Teil ihres Territoriums ist Osteuropa, ein Teil, und einen bedeutenden, haben wir ihnen geschenkt.“ Dieses „Argument“ muss Putin so gut gefallen haben, dass er es bei der Rechtfertigung der Invasion 2022 wieder verwendete.

Machtwechsel in Kiew

Zu den Präsidentenwahlen 2004 entsandte Moskau eine ganze Kohorte sogenannter Polit-Technologen, die die Abstimmung so organisieren sollte, dass Wiktor Janukowtisch, der Kandidat Moskaus Staatsoberhaupt würde.

Doch als dieses Ergebnis bekannt gegeben wurde, revoltierten die Wähler. Bei der Wahlwiederholung wurde der pro-westliche Wiktor Juschtschenko Präsident. Als Orange Revolution – den Begriff prägte der russische Polittechnologe Gleb Pawlowski – ging dieser Machtwechsel in die Geschichte ein.

Nach dem Scheitern seiner Pläne versuchte Russland mit wachsendem wirtschaftlichen Druck, vor allem über den Gasexport, die Situation in der Ukraine zu destabilisieren. Kiew versuchte dem mit einer Annäherung an die EU zu entgehen. 2013 wurde Janukowitsch dann doch Präsident. Da lag ein fast unterschriftsreifes Assoziierungsabkommen mit der EU auf dem Tisch. Janukowitsch versprach, es zu unterschreiben.

Russland reagierte mit einer Doppelstrategie. Eine Zollblockade legte den gesamten Export der Ukraine nach Russland lahm, Kiew steuerte in eine finanzielle Katastrophe. Gleichzeitig versprach der Kreml, die Preise für Erdgas zu senken und in Großprojekte zu investieren, sollte Janukowitsch das Assoziierungsabkommen nicht unterschreiben.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Zweite Revolution auf dem Maidan

Damit löste er eine zweite, die Maidan-Revolution im Winter 2013/14 aus. Diesmal beließ es Putin nicht bei wirtschaftlichem Druck. Die Annexion der Krim gelang noch beinahe, ohne dass ein Schuss fiel. Im Osten der Ukraine, um deren Eroberung für die „Russki Mir“ es jetzt geht, lief es anders. Spätestens seit 2010 waren dort im Untergrund prorussische Gruppen wie die Organisation Oplot tätig.

Diese Region hatte auch mit Michail Dobkin einen Gouverneur, der aus seiner prorussischen Gesinnung keinen Hehl machte. Doch in Charkiw wie auch in der Hafenstadt Odessa, wo es ebenfalls eine starke Verbindung zu Russland gab, verebbten die prorussischen Demonstrationen.

Anders in Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk. Dort spielte ein Mann eine zentrale Rolle, der sich selbst als ehemaligen KGB-Offizier zu erkennen gab: Igor Girkin, Deckname „Strelkow“.

Er lobte sich später selbst für seine Rolle als Auslöser für den bewaffneten Kampf vor acht Jahren: „Den Startknopf des Krieges habe ich gedrückt. Wenn unsere Truppe nicht die Grenze überschritten hätte, wäre alles so ausgegangen wie in Charkiw oder Odessa. Es hätte einige Dutzend Tote und Verhaftete gegeben. Und dann wäre es vorbei gewesen.“

Erster Regierungschef der sogenannten Volksrepublik wurde ein russischer Staatsbürger namens Alexander Borodaj. Strelkow blieb noch eine Weile als „Verteidigungsminister“.

Mehr zum Ukraine-Krieg auf Tagesspiegel Plus:

Ein eingefrorener Konflikt?

In den letzten Jahren schien der Konflikt im Osten der Ukraine „eingefroren“ oder doch zumindest eingehegt. Ende 2020 behauptete der russische Politologe Wladimir Frolow sogar in einem Essay auf der Online-Plattform „Republic“, in der russischen Außenpolitik habe es eine strategische Wende gegeben.

„Ohne viel Aufhebens zu machen, hat Russland seine Politik im postsowjetischen Raum geändert“, schrieb Frolow. „Eine ,Eurasische Union‘, eine ,Zone privilegierter Interessen‘, die ,Russki Mir‘, die regionale Dominanz, die Vereidigung einer Pufferzone vor den ,Nato-Panzern und -Raketen und die einzigartige Rolle als ,Garant für Sicherheit und Souveränität‘ für die postsowjetischen Staaten gegen äußere Einmischungen – diese großen Träume sind von der derzeitigen Agenda des Kreml verschwunden.“

Die Begründung: Der Preis für ihre Verwirklichung sei zu hoch. Diese Analyse kann die ehrliche Fehleinschätzung eines Experten gewesen sein. Im Lichte des russischen Krieges gegen die Ukraine kann man sie aber auch als ein Ablenkungsmanöver zu seiner Vorbereitung lesen. Viele im Westen wiegten sich ja tatsächlich in dem Glauben, der Kreml habe gar kein Interesse an einem Krieg – bis die ersten Schüsse fielen.

Zur Startseite