Barmer-Studie: Psychische Erkrankungen bei jungen Berlinern weit verbreitet
Depressionen und Angststörungen nehmen zu. Das gilt vor allem für Ballungsräume wie Berlin. Wovon sind Heranwachsende besonders betroffen?
Bundesweit sind nach einer Auswertung der Barmer zunehmend junge Erwachsene wegen psychischer Erkrankungen in Behandlung. Berlin, das teilte die Krankenkasse am Donnerstag mit, weist dabei die höchsten Zahlen auf: Bei fast jedem dritten Versicherten zwischen 18 und 25 Jahren wurde ein psychisches Leiden diagnostiziert.
Was sagen die aktuellen Zahlen im Detail aus?
Der Barmer in Berlin zufolge wurde inzwischen bei 30,2 Prozent ihrer Versicherten zwischen 18 bis 25 Jahren ein psychisches Leiden festgestellt – etwa Depressionen oder Angststörungen. Depressionen werden am häufigsten diagnostiziert. Fast jeder zehnte der Berliner Versicherten zwischen 18 und 25 Jahren war demnach 2016 wegen einer depressiven Erkrankung in Behandlung, also mehr als 96.300 junge Erwachsene. Außer Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen junger Erwachsener in Berlin somatoforme Störungen, also Schmerzen, die psychische Ursachen haben (fast 28.500 Betroffene), Anpassungsstörungen (27.100) und Angststörungen (15.200).
Die Analyse basiert auf Patientendaten des Jahres 2016. Die Barmer hat rund 474.000 Versicherte in Berlin. Die Mitglieder der gesetzlichen Kasse können mit Blick auf die Gesamtbevölkerung als weitgehend repräsentativ gelten. Für die aktuelle Studie hat die Barmer die Daten zudem so gewichten lassen, dass sie nun den Bevölkerungsschnitt abbilden. Erfasst sind nur Patientendaten der Ärzte: Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen, weil sich nicht jeder Betroffene in Behandlung begibt.
Wie ist die Lage in den einzelnen Bundesländern?
Berlin ist das Bundesland mit der höchsten Betroffenenrate, gefolgt von Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg. Geringer sind die Zahlen vor allem in Deutschlands Westen und Süden. Das überrascht Fachleute nicht. Stadtstaaten weisen in vielen Sozialstatistiken deutlich andere Zahlen auf als Flächenländer. Offenbar hängt dies mit dem Leben in Ballungsräumen zusammen, der Nordosten des Landes wiederum ist strukturell und ökonomisch schwächer.
Was bedeutet dies für die betroffenen Versicherten?
„Gerade im Jugendalter, wenn sich die Weichen für das künftige Leben stellen, können psychische Erkrankungen fatale Folgen haben“, sagt die Berliner Barmer-Chefin Gabriela Leyh. So hätten die Analysen gezeigt, dass junge Erwachsene, die im Laufe ihrer Kindheit psychisch erkrankten, seltener ein Studium aufnähmen. Unter den 15-Jährigen eines Jahrgangs litten diejenigen, die im späteren Leben kein Studium aufnehmen, fast doppelt so häufig an einer psychischen Erkrankung wie diejenigen, die später zur Universität gingen.
Gerade bei Depressionen kommen ernsthafte körperliche Begleiterscheinungen dazu. Betroffene leiden laut Barmer doppelt so häufig unter Bluthochdruck und sechsmal so häufig unter Schlafstörungen. Außerdem werden bei ihnen häufiger Selbstverstümmelungen diagnostiziert.
Wird dieser Trend durch andere Daten bestätigt?
Schon 2014 hatte die Barmer mitgeteilt, dass seelische Leiden immer häufiger diagnostiziert werden. Demnach litt damals rund ein Drittel der Erwerbstätigen in der Hauptstadtregion an psychischen Erkrankungen. Wie die Barmer meldeten auch andere Versicherungen ähnliche Daten. Die Techniker Krankenkasse etwa stellte 2014 fest, dass jeder fünfte Fehltag in Berlin einer psychischen Krankheit geschuldet war. Auch AOK und DAK, zwei große unter den mehr als 100 gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, hatten einen ähnlichen Trend ausgemacht. Zudem berichten auch Ärzte, dass sich zunehmend junge Patienten wegen seelischer Leiden meldeten.
Was ist über mögliche Ursachen der Leiden bekannt?
Zunächst ist nicht klar, ob Deutschlands junge (und alte) Erwachsene tatsächlich öfter seelisch erkranken. Fest steht nur, dass häufiger derartige Diagnosen gestellt werden. Dies hängt – womöglich – damit zusammen, dass inzwischen offener darüber gesprochen wird. Noch vor zehn Jahren war es insbesondere für Männer weitgehend unüblich, sich zur eigenen Depression zu äußern, also auch, mögliche Hilfe aufzusuchen. Die Barmer vermutet, dass Ärzte heute besser für psychische Probleme sensibilisiert sind und Patienten häufiger als früher an Psychiater und Psychologen verweisen.
Darüber hinaus könnte es auch sein, dass in Berlin mehr Depressionen als in Brandenburg festgestellt werden, weil es in der Metropole besonders viele Psychologen gibt. Generell lassen sich Fachärzte gern in den Stadtstaaten nieder – was allerdings die Lage in Mecklenburg-Vorpommern nicht erklären würde. Forscher gehen auch davon aus, dass die gesellschaftlichen Strukturen und die schnellere Lebensweise die Entstehung psychischer Leiden begünstigt. Gemeint sind damit: ständige Erreichbarkeit, Bewegungsmangel und Sorgen um Arbeitsplätze und Miete.
Wo sehen die Krankenkassen mögliche Lösungen?
Die Ergebnisse ihres Arztreports seien „erschreckend, aber nicht hoffnungslos“, teilte die Kasse mit. „Vor allem in den Bereichen Prävention und Entstigmatisierung haben wir Nachholbedarf. Erst wenn wir in einem Klima leben und arbeiten, in dem sich niemand für psychische Erkrankungen schämen muss, werden Ursachenbekämpfung und Prävention erfolgreich sein“, sagte Barmer-Landeschefin Leyh am Donnerstag. Im aktuellen „American Journal of Psychiatry“ sei zudem eine internationale Studie vorgestellt worden, die bewiesen habe, dass Menschen, die sich körperlich fit halten, ein deutlich geringeres Risiko haben, eine Depression zu entwickeln.
Seelische Erkrankungen ziehen, wenn sie denn behandelt werden, lange Heilungsverfahren nach sich. Gerade depressive Patienten fehlen oft Monate im Job. Das kann auch bedeuten, dass die Kassen womöglich Krankengeld zahlen müssen. Die Pflicht der Arbeitgeber auf Lohnfortzahlung endet nach sechs Wochen.
Für Jugendliche und junge Erwachsene aus Berlin mit Suizidgedanken gibt es das Krisentelefon von Neuhland, montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr erreichbar unter 8730111. Rund um die Uhr hilft der Berliner Krisendienst (Telefon 3906300).