"Erdogan doch nicht so allmächtig": Prozesse gegen Deniz Yücel und Peter Steudtner vertagt
Weil Akten nicht vorliegen, wurden zwei türkische Verfahren gegen Deutsche unterbrochen. Im Oktober werden die Prozesse gegen Yücel und Steudtner fortgesetzt.
Der Prozess gegen den „Welt“-Journalisten Deniz Yücel ist am Dienstag erneut vertagt worden. Das Istanbuler Gericht habe Yücels im Mai in Deutschland eingereichte Verteidigungsschrift noch nicht erhalten, wie die türkische Medienrechtsorganisation MLSA auf Twitter mitteilte. Einem Antrag auf sofortigen Freispruch, den Yücels Anwalt Veysel Ok gestellt habe, sei nicht entsprochen worden.
Das Gericht will demnach abwarten, bis ihm Yücels schriftliche Aussage vorliegt. Der Prozess, der in Abwesenheit Yücels geführt wird, soll am 17. Oktober weitergehen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Journalisten Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor.
Ein Istanbuler Gericht vertagte zudem den Prozess gegen den Deutschen Peter Steudtner und zehn weitere Menschenrechtler. Das Gericht entschied bei der Anhörung am Vormittag, die Prozessakten an den neu ernannten Staatsanwalt zur Erstellung seines Schlussplädoyers zu schicken, teilte die Plattform für Pressefreiheit P24 im Kurzmitteilungsdienst Twitter mit. Der Prozess wurde auf den 9. Oktober vertagt.
Yücels Verteidiger Ok berief sich in der Verhandlung auf das vor drei Wochen veröffentlichte Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, in dem die Inhaftierung Yücels für rechtswidrig erklärt worden war. Die Verfassungsrichter kritisierten zudem zahlreiche Argumente der gegen Yücel vorgelegten Anklageschrift. Das oberste Gericht habe eindeutig festgestellt, dass das Vorgehen der türkischen Behörden Yücels Meinungsfreiheit verletzt habe, führte Ok laut der Zeitung „Cumhuriyet“ in der Verhandlung am Dienstag aus.
„Späte Gerechtigkeit ist keine“
Der „Welt“-Journalist Deniz Yücel sieht seit ungefähr einem Jahr einen Wandel in der Türkei. Erdogan sei „doch nicht so allmächtig ist, wie es schien“, sagte Yücel am Dienstag im ZDF-„Morgenmagazin“. „Viele Leute haben es satt.“ Besonders bei den kürzlichen Wahlen in Istanbul, bei denen der türkische Präsident eine Niederlage erlitt, sei dies deutlich geworden.
An diesem Dienstag sollte das Verfahren gegen Yücel in der Türkei weitergehen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Journalisten Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. Vor knapp drei Wochen hat das türkische Verfassungsgericht in Ankara die Inhaftierung von Yücel als rechtswidrig erklärt. „Späte Gerechtigkeit ist keine“, sagte Yücel dazu im „Morgenmagazin“: „Wäre das Urteil damals gekommen, wäre das ein großer Sieg gewesen“, sagte Yücel. „Das haben sich die Richter aber damals nicht getraut.
In dem Steudtner-Prozess sind die sogenannten „Istanbul 10“ sowie der Amnesty-Ehrenvorsitzende Taner Kilic der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ angeklagt. Die „Istanbul 10“ waren im Juli 2017 während eines Workshops auf der Insel Büyükada bei Istanbul festgenommen worden. Unter den zehn angeklagten Menschenrechtlern sind die türkische Amnesty-Direktorin Idil Eser, der Deutsche Peter Steudtner und der Schwede Ali Gharavi. Steudtner war am 25. Oktober 2017 nach mehr als 100 Tagen Haft überraschend aus der U-Haft freigekommen und nach Deutschland ausgereist.
Yücel geht nach Sachsen
Yücel wird als „Welt“-Korrespondent ab Juli die kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland begleiten. Sachsen sei interessant, sagte er: „Das, wo die Türkei heute steht, das, wo Russland heute steht, wollen Leute dort erreichen“.
Yücel saß ab Februar 2017 knapp ein Jahr lang ohne Anklageschrift in türkischer Untersuchungshaft, davon neun Monate in strenger Einzelhaft. (epd)