Ägypten: Projekt Demokratie
Zeitenwende: Erstmals in Ägyptens 5.000-jähriger Geschichte tritt ein frei gewähltes Parlament zusammen. Einer der 498 Abgeordneten ist Amr Hamzawy, Wohnsitz Kairo und – Berlin. Er macht sich keine Illusionen. „Mit dem Militär werden wir so schnell nicht fertig“, sagt er.
Für die Premiere kennt er seinen genauen Platz noch nicht. Wenn am Montagmorgen um elf Uhr das erste demokratisch gewählte Parlament in der 5000-jährigen Geschichte Ägyptens zusammentritt, sitzt Amr Hamzawy wahrscheinlich „irgendwo rechts von der Mitte“ auf den langen Edelholzbänken mit ihren grünen Lederkissen. Mit ihm werden sich 498 Abgeordnete aus 15 Parteien feierlich in den hufeisenförmigen Saal drängeln mit dem vier Meter hohen ägyptischen Staatsadler an der Front. Zu ihrem Einstand als Stimme des 85-Millionen-Volks am Nil singen sie dann die Nationalhymne „Ägypten, o Mutter aller Länder, mein Herz schlägt liebevoll für dich“ und legen alle zusammen den Eid auf die Übergangsverfassung ab.
„Ich habe großes Herzklopfen“, bekennt der Parlamentsneuling. Er werde nicht wie die anderen Kollegen im Bus am Hintereingang vorfahren. „Ich komme mit dem Taxi zum Tahrir-Platz und gehe dann zu Fuß.“ Seit den schweren Krawallen im November sind diese letzten 800 Meter zum Parlament allerdings ein tückischer Hindernislauf. Denn der monumentale Kuppelbau aus dem britischen Kolonialjahr 1923 ähnelt einem Hochsicherheitstrakt – umsäumt von Stacheldrahtrollen, angekokelten Hausfassaden und Sperrmauern aus klobigen Betonquadern quer über alle Zufahrtsstraßen.
Mit dem im Fernsehen live übertragenen Festakt, bei dem die Volksvertreter auch den neuen Parlamentspräsidenten und seine beiden Stellvertreter küren, beginnt für Ägypten eine historische Woche. Am Mittwoch will der herrschende Oberste Militärrat mit Riesenfeuerwerk und Volksfest den Revolutionsbeginn am 25. Januar gegen Hosni Mubarak feiern lassen. Die jungen Aktivisten dagegen haben anderes im Sinn. Sie rüsten sich erneut, den legendären Freiheitsplatz im Herzen Kairos zu besetzen. Sie fühlen sich politisch an den Rand gedrängt, längst verblasst ist der große Schulterschluss der Massen gegen das verhasste Regime vor einem Jahr. Auch sind die Früchte der Revolution völlig anders, als es sich die jungen Regimegegner damals erträumten. Ihre Parteien endeten im Mikroprozentbereich. Die Islamisten sind übermächtig, das säkulare Lager eine schwache Minderheit, und das Militär verschleppt weiter zäh die Demokratisierung. Die Stimmung im Land ist gereizt und nervös, und niemand kann sagen, ob nicht Ende der Woche das Zentrum der ägyptischen Metropole erneut in Flammen steht.
Amr Hamzawy jedenfalls macht sich keine Illusionen, was jetzt auf ihn zukommt. „Mit dem Militär werden wir so schnell nicht fertig werden“, sagt er noch einige Tage zuvor in seinem spartanischen Wahlkreisbüro im Stadtteil Heliopolis an der Nouzha-Straße. Die Luft ist stickig, draußen hupt der abendliche Autoverkehr. Im Flur hängt noch sein Plakat, auf dem er für sich wirbt als „Kandidat ohne Partei – ganz alleine“. Er ist davon überzeugt, dass der entscheidende Kampf um die künftige Stellung der Armee in einem demokratischen System gehen wird. „Werden die Geschicke des Landes künftig von Zivilisten geleitet oder nicht? Wird sich das Militär künftig dem Parlament unterordnen oder nicht?“
Die Generäle, die mindestens 20 Prozent der ägyptischen Wirtschaft kontrollieren, wollen für sich eine Sonderstellung in der neuen Verfassung erzwingen. Straßen, Baufirmen, Hotels, Tankstellen, Lebensmittelfirmen und ganze Landstriche gehören der Armee. Ihr Budget und Geschäftsgebaren aber sind der Kontrolle durch Parlament und Regierung völlig entzogen. „Das muss bekämpft werden, genauso wie die Dominanz der religiösen Kräfte, die glauben, das Heilige nur für sich allein gepachtet zu haben.“
Kaum ein Tag vergeht, an dem Hamzawy nicht an die 20 Stunden auf den Beinen ist. Drei Stunden Bürgersprechstunde liegen an diesem Nachmittag hinter ihm, zuletzt quetschen sich die fünf Delegierten des ägyptischen Verbandes der Alleinerziehenden über den engen Flur nach draußen. „Er wird sich für uns einsetzen“, lächeln die jungen Mütter zufrieden. Bei der 15-Minuten-Audienz drinnen führte der Vorsitzende des Verbandes das Wort, ein ehemaliger Artillerie-General, der schwerhörig ist. Passkopien, Namen und Schicksale, alles hat er bei seiner Präsentation fein säuberlich geordnet vor sich liegen. Er und seine Mitstreiterinnen fürchten, dass Muslimbrüder und Salafisten im neuen Parlament mit ihrer satten 70-Prozent-Mehrheit schon bald die relativ liberalen Regelungen beim Sorgerecht durch Scharia-Vorschriften ersetzen werden. Dann hätten Mütter künftig kaum noch Mitsprache über das Schicksal ihrer Kinder, wenn sie sich scheiden lassen.
„Die Menschen haben enorme Erwartungen an uns“, sagt Hamzawy, während er auf dem vor ihm liegenden iPad herumscrollt, wo er elektronisch seine Gedanken und Analysen sammelt. Seine Prioritäten sieht er in der Familienpolitik, mehr Rechte für Frauen am Arbeitsplatz und einen besseren Schutz vor sexuellem Missbrauch. Er wirbt für die Einführung der Zivilehe und könnte sich auch eine koptische Christin als nächste Präsidentin Ägyptens vorstellen. „Ich möchte bestehende Gesetzeslücken schließen und entsprechende Grundrechte in der Verfassung verankern“, sagt er und schmunzelt. „Ich habe meinen Wahlkampf mit konkreten Themen geführt, jetzt muss ich auch liefern.“
Seine Gedanken wandern dabei stets zu Osteuropa nach dem Fall der Mauer
Die Begehren in seiner Bürgersprechstunde jedenfalls sind so vielfältig wie die Besucher. Heba Adel, Mutter zweier erwachsener Söhne, möchte, dass das neue Parlament etwas „gegen die Raffgier von Ladenbesitzern“ tut, die Preise stärker kontrolliert und den Verbraucherschutz verbessert. Eine Stunde wartet die 42-Jährige geduldig mit ihrer Mappe unter dem Arm, bis sie bei „Doktor Amr“ an der Reihe ist. Andere beklagen sich über den Müll im Viertel, illegal aufgesetzte Dachetagen oder die schlechte Verkehrsanbindung. Mohamed Shehata, der im Duty Free Shop am Flughafen arbeitet, will mit seinen Freunden eine Kooperative für Lebensmittel und Kleidung gründen, wo Arme billig einkaufen können. „Ich möchte etwas tun für mein Land“, sagt er und will Hamzawy als Schirmherrn gewinnen. Denn beide wissen, dass die Islamisten den liberalen Kräften vor allem mit ihrer konkreten Sozialarbeit vor Ort um Längen voraus sind.
Trotzdem gelang Hamzawy als einzigem Politiker aus dem liberalen Lager im ersten Wahlgang der direkte Sprung ins Parlament. Seitdem ist er der Polit-Star des säkularen Ägyptens, der Hoffnungsträger aller Nicht-Islamisten. Selbst Angela Merkel telefoniert gelegentlich mit ihm, um sich die Lage am Nil erklären zu lassen. Sein Kontrahent aus der Muslimbruderschaft im Vierten Kairoer Wahldistrikt nahe dem Flughafen endete weit abgeschlagen, genauso wie zwei populäre Blogger. Früher war der Mittelklassebezirk eine Hochburg des alten Regimes. Hier gingen stets Hosni Mubarak und seine Familie wählen. Kein Wunder, dass das zweite Direktmandat an einen Kandidaten aus Mubaraks früherer Regierungspartei ging – ebenfalls ein Unikum im postrevolutionären Ägypten.
„Natürlich bin ich über den Erfolg der Salafisten enttäuscht. Auch wir müssen die Öffentlichkeit überzeugen, dass wir konkret etwas tun“, sagt Amr Hamzawy, der 43-jährige Professor, um dann in einen kurzen politikwissenschaftlichen Exkurs abzugleiten. Demokratische Wahlen seien offene Prozesse, eine Demokratie kenne keine endgültigen Siege oder Niederlagen. Zu Fatalismus also gebe es keinen Anlass – nach dem Motto, wir haben endgültig verloren, ein liberales Ägypten wird es nicht mehr geben.
Seine Gedanken wandern dabei stets zu Osteuropa nach dem Fall der Mauer. Postrevolutionäre Entwicklungen seien nie geradlinig, es gebe immer wieder Rückschläge, sagt er. „Wir brauchen einen langen Atem. Wir dürfen nicht nervös werden. Wir müssen uns beruhigen, denn vor uns liegt ein langer Kampf.“ Sätze, die auch nach Selbstberuhigung klingen.
Geboren wurde der populäre Einzelkämpfer 1968 in einem kleinen Dorf südlich von Minia in Oberägypten, wo die Muslimbrüder schon immer stark waren. Zunächst studierte er politische Wissenschaften in Kairo, dann in Den Haag und Amsterdam. Seine Promotion über politisches Denken in der arabischen Welt schrieb er an der Freien Universität in Berlin. Neun Jahre lebte und arbeitete er als Dozent an der Spree, „die schönsten Jahre meines Lebens“, wie er heute sagt.
Er heiratete, hier wurden seine beiden Söhne geboren, die fünf und acht Jahre alt sind. Bei der Frage, ob er Ägypten oder Deutschland als seine Heimat empfände, zögert er einen Moment. „Für einen Oberägypter ist Heimat immer dort, wo seine Söhne sind“, antwortet er schließlich in makellosem Deutsch. Und so jettete er noch drei Tage vor der Eröffnungssitzung des Kairoer Parlaments nach Berlin, um das Schülerkonzert seiner Söhne an der Musikschule Berlin-Mitte zu hören, wo beide Klavier spielen lernen.
Wie seine private Zukunft als Vater in Berlin aussieht, ist für ihn genauso offen wie seine öffentliche Zukunft als Neu-Politiker in Kairo. „Wenn meine Söhne mich brauchen, werde ich bei ihnen sein“, sagt er.
Genauso ernst aber nehme er die neuen Abgeordnetenpflichten in seinem Geburtsland. Früher habe er wissenschaftliche Analysen über Ägypten geschrieben, jetzt beginne im Parlament ein ganz neues Kapitel in seinem Leben. „Wie ich das alles unter einen Hut kriegen soll, weiß ich noch nicht“, sagt er. „Das werde ich sehen, wenn sich das Land wieder etwas beruhigt hat. In diesem Jahr aber wird das ganz bestimmt nicht sein.“