Moderne Mobilität: Privatwagen ade
Recht auf einen Parkplatz? Millionen „Ichs“ in ihren Autokokons? Ein Essay über vergehende und neue Geschäftsmodelle für die analoge Welt.
Henry Ford wird ja als der eigentliche Motoriseur der Massen gewürdigt, weil er die Fließbandproduktion erfunden hat. Aber die Fähigkeit, Autos massenweise und billig herzustellen, ist nur eine von zwei Säulen für den Erfolg des Autos. Die andere ist die gesellschaftliche Erlaubnis, diese Autos exklusiv auf öffentlichen Straßen und Plätzen fahren zu lassen, die vorher von allen, nämlich Hühnern, Schweinen, Kühen, Kindern, Erwachsenen, Pferden und Fuhrwerken genutzt wurden. Die Vertreibung der Letzteren aus dem Straßenraum war Anfang des 20. Jahrhunderts eine fantastische Leistung von begeisterten und professionellen Lobbygruppen. Sie fand gegen den beträchtlichen Widerstand der Vertriebenen statt. Sie war nur möglich, weil das Auto zum Zeitpunkt seiner Erfindung der Vorstellung von unserem modernen Ich so genau entsprach. Das Auto war das Selfie des 20. Jahrhunderts.
1909 gab es in Deutschland 47 000 Autos
Heute historisieren wir die Autoindustrie und betrachten ihre Anfänge, weil wir fühlen, dass etwas an sein Ende kommt. Ein Anlass dazu ist die Hybris von Volkswagen, die schon vor den aktuellen Lügen darin bestand, unbedingt die größte Autofabrik der Welt werden zu wollen. Die Idee eines Dinosauriers. Und wenn wir zu den Anfängen zurückschauen, sehen wir, dass sich erfolgreiche neue Verkehrsmittel immer ihre eigene Verkehrsinfrastruktur schaffen, sei es den Kanal oder die Schiene, den Flughafen oder die Autobahn.
1909 hatte Deutschland 64 Millionen Einwohner mit 47 000 Autos. Auf 1360 Deutsche kam eins. Dessen Besitzer eroberten sich mit einem juristischen Trick Straßen und Plätze. Wer als Fußgänger auf der Straße überfahren wurde, war ab 1909 (Haftpflichtgesetz für Automobile) selber schuld, weil die Straße für die Autos reserviert bleiben sollte. Nicht mehr der Überfahrende war nun schuld, sondern der Überfahrene. Eine kleine Änderung mit kolonisierender Wirkung. Natürlich gab es gegen diese Besetzung des öffentlichen Raums Proteste. Aber die Faszination der neuen Technik und die Durchsetzungskraft ihrer Nutzer war so stark, dass sich die ungeheure, nicht motorisierte Mehrheit verdrängen ließ. Herr über Zeit und Raum zu sein und das alleine im privaten Schutzraum, das entsprach so sehr den Wünschen, dass diese Kolonisierung des öffentlichen Raums durchgesetzt werden konnte.
Die Moderne liebt Mobilität, Geschwindigkeit und die gerade Linie. Sie „verdampft alles Stehende und Ständische“ (Marx/Engels) und zurück bleibt das Individuum – allein. Dieses vergewissert sich seiner selbst über seine Mobilitätsgeschichte, über seine individuelle Spur im Raum. Das moderne Ich will überallhin, am besten dorthin, wo noch keiner war. Das beginnt mit Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren und endet mit dem Massentourismus. Das wichtigste Hilfsmittel der Moderne ist das Auto. Das Ich kann es überall mitnehmen auf der weißen Landkarte und überall leistet es treue Dienste. Von oben betrachtet sind das Millionen „Ichs“ in ihren Autokokons, unverbunden, allein und zufrieden, solange es vorangeht.
Diese unverbundenen Ichs sind über den Kokon fest mit dem Autohersteller verbunden. Die Marke eines erfolgreichen Autoherstellers ist das Wertvollste, was er hat. Markenkommunikation ist einseitige Kommunikation zur Aufladung des Autos und damit des Ichs mit allen wünschenswerten Eigenschaften, die Kaufinteresse auslösen.
Der öffentliche Raum, das ist die zweite und entscheidende Erfolgsbedingung des Autos, soll vor allem leer sein, um durchquert und beparkt zu werden. Er ist die weiße Landkarte, über die wir wie die Großen Entdecker fahren können. Nachdem der öffentliche Raum kurz nach Erfindung des Autos erobert war, hatte die Autoindustrie für dieses extensive Geschäftsmodell 100 Jahre genug Platz. Das ist jetzt vorbei: „ Die einzige wirkliche Gefährdung für das Automobil ist sein unglaublicher Erfolg, der vor allem in Städten Staus verursacht“ (Daimler-Chef Dieter Zetsche).
Auf die Autos und alle anderen Verkehrsmittel und ihre Fahrer und Mitfahrer und die weiße Landkarte legt sich nun das Web. Plötzlich sind alle mit allen verbunden, Geschwindigkeit, dieser sechste Kontinent in der Moderne (Paul Virilio) ist im Web aufgehoben, wir sind überall und es gibt keine weißen Landkarten mehr. Was sind die Folgen für unsere Mobilität und nicht zuletzt für unsere so prächtige Autoindustrie?
Das Web ist die neue faszinierende Verkehrsinnovation, die sich wie das Auto ihre eigene Verkehrsorganisation schaffen und die alte verdrängen wird. Das erscheint zunächst widersprüchlich, denn das Web ist doch Netz und nicht Verkehrsmittel. Beim Nachdenken über die zukünftige Verkehrsorganisation dürfen wir aber nicht vergessen: „The Internet is both: the ship and the ocean“ (Yann Moulier-Boutang). Dieses Netz ist erstmalig „beides, das Schiff und das Meer“.
Das Web verdrängt analoge mit überlegenen, digitalen Produkten. Letztere haben den Riesenvorteil, dass sie quasi kostenlos hergestellt werden können (Jeremy Rifkin). Karstadt muss seine Waren einzeln in teuren Warenhäusern präsentieren. Amazon stellt nur Bilder und Texte ins Netz und betreibt eine ausgefeilte Logistik. Das digitale Netzprodukt Amazon ist viel billiger als das analoge Warenhaus. Netzprodukte sind jedoch im Wettbewerb nur dann überlegen, wenn alle ersetzbaren analogen Anteile des alten Produkts digitalisiert werden. Keine halben Sachen! Bei der möglichst kompletten Digitalisierung analoger Produkte sind Amazon und Google die Meister.
Parken ist die letzte sozialistische Warteschlange
Aber wie soll das Web das Auto, dieses teure Stück Hardware ersetzen? Hier noch einmal die beiden Säulen des analogen Geschäftsmodells: Die ganz große Autofabrik ermöglicht ganz große Kostensenkung bei der Herstellung. Bei der effizienten Produktion ist die Autoindustrie seit Henry Ford der Meister. Und zweitens: Gerade das Privatsein der massenhaften Autos macht ihre Nutzung, das Suchen, das Öffnen, das Fahren so einfach, weil man keinen anderen fragen muss und immer weiß, wo es steht. Und diese Einfachheit der privaten Nutzung ist möglich, weil man ohne direkte Kostenberechnung im öffentlichen Raum umherfahren und parken darf.
Wo angreifen, wie verdrängen, wenn man als digitaler Netzunternehmer keine Ahnung von der physischen Herstellung von Autos hat? Die analoge Autoherstellung kann man nicht digital ersetzen und 3-D-gedruckte Motoren überzeugen uns bisher wenig. Aber die anderen analogen Produktanteile des Autofahrens, das Suchen, das Öffnen, das Fahren und das Parken kann man digital wunderbar vereinfachen und quasi kostenlos anbieten. Um diese Vereinfachung muss es gehen. Und sie muss möglichst groß sein, um den Erben von Henry Ford Paroli bieten zu können.
Erstens Car-Sharing: Dem Kunden wird nicht mehr eins zu eins ein Auto, sondern eine ganze Flotte zugewiesen. Aus dem Privatauto – diesem guten alten Hund – wird eine Herde, die ich durch das Smartphone betrachte. Zunächst wird die Sache komplexer, weil die Nutzung dieser Autoflotte für den Einzelnen koordiniert werden muss. Aber genau das ist der Trick. Die tatsächlich schwierige Koordinierung des Suchens, Öffnens, Fahrens und Parkens kann sehr schön digitalisiert und vereinfacht werden. Man steigert also zuerst die Komplexität, um sie hinterher umso mehr vereinfachen zu können. Und als Belohnung für diese Verrücktheit bekommt man eine zehn Mal kleinere Gesamtherde. Deren Herstellung kostet ein Zehntel. Hier wird in der analogen Welt das Geld gespart, das die Dienstleistung des Netzunternehmens CarSharing kostet. Billige Herstellung pro Stück, also die erste Säule des alten Geschäftsmodells der Autoindustrie ist für Car-Sharing viel weniger wichtig als für den privaten Autobesitzer. Entscheidend ist die Einfachheit der Koordination und daher beruht die Erfolgsgeschichte des Car-Sharings auf der Vereinfachung der gemeinsamen Nutzung. Aus dieser Leistung der Car-Sharing-Anbieter erwächst die Zahlungsbereitschaft der wachsenden Kundschaft. Der erste Schritt ist getan: Eine Stärke der Autoindustrie wird durch die gemeinsame Nutzung einer viel kleineren Flotte relativiert.
Aber Car-Sharing bleibt ohne einen zweiten Schritt unwirtschaftlich und teuer, weil es als Netzprodukt nicht alle analogen Produktanteile einer Fahrt digitalisiert und senkt. Es folgt damit nicht der Logik von webbasierten Geschäftsmodellen. Die Rede ist vom Parken. Jede Fahrt endet auf einem Stellplatz, sei er privat oder auf der Straße. Im öffentlichen Raum werden beim Privatauto aber auch beim Car-Sharing Stellplätze weiterhin analog gesucht, vulgo: Man kurbelt so lange um den Block, bis was frei wird. Parken ist die letzte sozialistische Warteschlange. Ein Anachronismus.
Smart-Parking ist viel billiger als das heutige System mit Parkuhren, Bargeld und Zettelwirtschaft
Die Lösung des analogen Parkplatzproblems ist einfach: Der Berliner Senat weist mit normalen Straßenschildern „Smart-Parking-Zonen“ aus, in denen nur Autos parken dürfen, die Stellflächen telefonisch oder per App für einen bestimmten Zeitraum gebucht haben. Die Regelung gilt für alle Autos, seien sie privat oder geteilt. Smart-Parking-Flächen sind nur noch digital verfügbar. Die Warteschlange findet im Internet statt, der analoge Parksuchverkehr entfällt. Smart-Parking ist viel billiger als das heutige System mit Parkuhren, Bargeld und Zettelwirtschaft. Und es kann über die mögliche Buchung im Web erstmalig Stellplätze in der Zukunft verwalten. Genaueres würde man in einem der unvermeidlichen Feldversuche klären müssen.
Ja, es würde einen Aufschrei geben, wenn unsere kostenlosen Laternenstellplätze auch nur teilweise entfallen könnten. Smart-Parking kostet Geld. Der Finanzsenator könnte verführt sein, viele Stellflächen ins Netz zu stellen, weil es so schön einfach ist. Er könnte aber auch mit Zonen anfangen, die schon jetzt bewirtschaftet werden.
Nein, es wird keinen Aufschrei geben, weil der Staat die notwendigen Smart-Parking-Schilder niemals aufstellen wird. Er hat 25 Jahre gebraucht, um Car-Sharing-Stationen einzurichten. Der Staat ist ein sehr schlechter Innovator. Aber mit reiner Untätigkeit kann man die Tendenz des Webs, analoge Dinge ins Netz zu importieren, nicht aufhalten. Es wird eine App geben, nennen wir sie StellDichRein. Es werden sich Leute finden, die Stellplätze mit eigenen Autos besetzen. StellDichRein wird – gegen eine kleine und später nicht so kleine Gebühr – den verzweifelten Stellplatzsuchern verraten, wo diese Besetzer sind. Legal, illegal, sch…egal. Der Finanzsenator wird nichts abbekommen. Das wird ihm nicht gefallen und schließlich werden die Schilder aufgestellt werden.
Und die weiteren Folgen? Smart-Parking wird sehr groß werden, weil man es so leicht und billig einrichten kann. Aber vor allem ist Smart-Parking das fehlende Bindeglied, das die gemeinsame Nutzung von öffentlichen Autos und Räumen attraktiver machen wird als den privaten Pkw. Private Autos parken viel mehr, als sie fahren, und werden daher vergleichsweise viel bezahlen müssen. Damit fördert Smart-Parking indirekt alle hoch ausgelasteten, geteilten Autos, seien es Taxis, Busse oder Car-Sharings. Die Zahl der privaten Autos dürfte sinken.
Mit der virtuellen Bewirtschaftung der Stellflächen entfällt der kostenlose Zugang und damit die zweite Säule des vergehenden Geschäftsmodells der Autoindustrie. Sein Nachfolger makelt im Netz und draußen die Wünsche der Menschen mit allen Verkehrsmitteln und den notwendigen Verkehrsflächen. Der private Pkw, dieser vereinzelte Kokon auf der weißen Landkarte „fällt aus dem Netz“ (Andreas Knie).
Dann gilt vor allem für die Städte: Privatauto ade.
Der Autor, geboren 1959, wuchs am Bodensee auf, studierte Wirtschaftswissenschaften in München, Vancouver und Berlin und gründete 1988 das erste deutsche Car-Sharing in Berlin. Heute lebt er in der Märkischen Schweiz und berät mittelständische Firmen.
Markus Petersen
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