Countdown zur US-Wahl: Noch 33 Tage: Präsidentenbingo im Sports Café
Bei den TV-Debatten zwischen Barack Obama und Mitt Romney geht es ohnehin nicht um Inhalte: Stilnoten entscheiden über Sieg und Niederlage. Besonders schön lässt sich das beim Public Viewing beobachten, mit einem besonderen Extra: Wer ruft als erster "Bingo"?
Das Spiel geht so: Jeder Gast bekommt am Eingang einen grünen Zettel und einen Kugelschreiber. Auf dem Zettel steht oben links „Obama“ und oben rechts „Mitt“. Darunter stehen jeweils fünf Reihen mit Worten wie „Energy“, „America“, „Congress“, „Deficit“. Sobald Präsident oder Herausforderer eines der Worte benutzen, muss der Gast es auskreuzen. Wer eine Reihe voll hat, ruft laut „Bingo!“ und erhält zur Belohnung ein Getränk seiner Wahl. Willkommen bei der „Presidential Debate Bingo Night“ im „Ventnor Sports Café“ im Szene-Stadtteil Adam’s Morgan in Washington D.C.!
Schon früh am Abend füllt sich der Kellerraum, an den Wänden hängen zehn große TV-Bildschirme. Die Besucher sind zwischen 20 und 30, viele Frauen, mehrheitlich weiß, aber auch Schwarze und Latinos sind gekommen. Zur Stärkung gibt’s „Buffalo Chicken Fingers“ oder „Chicken Burrito“, viele Cocktails werden über den Tresen gereicht – und sehr viele Biergläser. Alex Aucoin ist 27 Jahre alt und sitzt am Tresen. Er freut sich auf die Debatte. „Ich tendiere zu Obama, und ich werde gut zuhören“, sagt er.
Die meisten Gäste hier tendieren nicht nur zu Obama, sondern sind Fans des Präsidenten. Wie die 32-jährige Angie, die mit zwei Freundinnen gekommen ist. „Die Debatte wird mein Votum ganz bestimmt nicht beeinflussen“, sagt sie, auch wenn ihre konservativen Eltern das gern so hätten. Angie lacht. Das Bingo-Spiel findet sie prima. „Das erhöht doch die Konzentration beim Zuhören – und wir alle haben Spaß.“
Was dann folgt, ist eine laute multimediale Politikparty. „Bingo!“, heißt es zum ersten Mal bereits nach zehn Minuten. Sarah, Susie und Travis verfolgen das Spektakel sowohl live als auch auf Twitter. Sarah liest vor: „Romneys US-Fahne am Revers ist größer als die von Obama, das Spiel ist aus.“ Alle lachen. – Die Umstehenden ermahnen zur Ruhe, sch, sch, sch.
Das inhaltliche Interesse an den Redebeiträgen ist im „Ventnor Sports Café“ eher gering. Doch um Inhalte geht es bei diesen Debatten ja auch nicht. Das Format lässt wenig Dialoge und Spontaneität zu. Sämtliche Abläufe sind eingeübt. Romney und Obama sagen auswendig gelernte Texte auf. Sie wissen, dass es um sechs Themen geht, für die je 15 Minuten angesetzt wurden. Auch alles andere ist geregelt - die Beleuchtung, die Raumtemperatur, wie viele Familienmitglieder am Ende der Debatte auf die Bühne gehen dürfen. Travis sagt, das sei eine anderthalbstündige politische Werbesendung.
So ist es denn kein Wunder, dass die Verpackung der Botschaft seit Beginn der TV-Debatten vor 52 Jahren stets wichtiger war als die Botschaft selbst. Wer in Amerika eine TV-Debatte verlor, hat entweder zu oft geseufzt (Al Gore, 2000) oder zu oft auf die Uhr geguckt (George H. W. Bush, 1992). Keiner ist im Duell gescheitert, weil er etwas Falsches sagte. Stilnoten entscheiden über Sieg und Niederlage. Es geht um die Balance – aggressiv, aber auch präsidial; konkret, aber nicht detailversessen; einfühlsam, aber authentisch; die eigenen Anhänger motivieren, aber auch die Nation im Blick haben.
Obama landet ein paar rhetorische Treffer. Doch es fehlt die Überraschung. Romney bleibt stets ruhig, höflich und entspannt. Obama ist in der Defensive, versucht mehr, gegen Romney zu punkten als mit sich selbst. Das wirkt seltsam unsouverän. Dabei weiß der Präsident, wie beliebt er im Land ist.
Laut einer Umfrage von „Washington Post“ und „ABC-News“ sagt eine große Mehrheit der Amerikaner, sie würden lieber Obama als Romney bei einem Tanzwettbewerb zugucken (51 zu 26 Prozent), lieber Obama als Romney als Kapitän auf einem in Sturm geratenen Schiff sehen (52 zu 40), lieber mit Obama als Romney zelten gehen (48 zu 34) und lieber die Lieblingsmusik von Obama als von Romney hören (46 zu 30).
„Bingo“! Zum Ende der Debatte hört im überfüllten „Ventnor Sports Café“ kaum noch einer zu. Sarah sagt, Romney sei besser gewesen, als sie gedacht habe. Obama habe müde und gealtert gewirkt. Travis meint, Romney sei offenbar besser vorbereitet gewesen, Obama habe als Präsident eben weniger Zeit für die Vorbereitung auf TV-Debatten. Für Angie hat sich nichts geändert. „Ich wäre überrascht, wenn Romney aus dieser Debatte als Sieger herausgeht.“ Und Alex hat sich etwas gelangweilt. „Keine Höhepunkte.“
Nur eines ist nach diesem Abend sicher: Die Wahl bleibt spannend. Scott Auslander, der Besitzer des „Ventnors“, hofft indes, dass der nächste Debattentermin nicht mit einem Baseball-Playoff-Spiel kollidiert. Die Entscheidung wäre wirklich hart.
Malte Lehming