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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
© dpa
Update

1000 Festnahmen in der Türkei: Präsident Erdogan lässt 9000 Polizisten suspendieren

Erdogan geht mit aller Härte gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor: Wieder wurden 1000 Personen festgenommen, 9000 Polizisten wurden suspendiert.

Die politische Führung in der Türkei hat zu einem neuen Schlag gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung ausgeholt. In landesweiten Razzien nahm die Polizei am Mittwoch mehr als tausend Verdächtige fest, die Gefolgsleute des des regierungskritischen Predigers Fethullah Gülen sein sollen. Am Abend gab die Polizei die Suspendierung von mehr als 9000 mutmaßlichen Gülen-Anhängern in den eigenen Reihen bekannt. Die Regierung wirft Gülen vor, die Polizei durch verdeckte Netzwerke unterwandert zu haben. Weitere Festnahmen sind zu erwarten: Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden dreimal mehr Haftbefehle ausgestellt.

Ziel der Razzia war die Polizei selbst, wie Innenminister Süleyman Soylu erklärte. "Geheime Imame" der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen hätten die türkische Polizei unterwandert. Auch nach Außen gibt sich die Führung in Ankara kämpferisch. Staatschef Erdogan drohte einmal mehr mit dem Ausstieg aus den Beitrittsverhandlungen mit der EU. Den Beschluss des Europarats in Straßburg, die Türkei wegen ihrer Rückschritte bei der Demokratie wie schon bis 2004 wieder unter Beobachtung zu stellen, nannte Erdogan "politisch motiviert"; man erkenne diese Entscheidung nicht an. Die Türkei riskiert damit die Suspendierung ihrer Mitgliedschaft in der 47 Staaten umfassenden Organisation Europarat.

"Es macht auch keinen Sinn, die Diskussionen über einen Beitritt fortzusetzen."

Ankara sieht sich nun mit den Folgen des Konfrontationskurses gegen Europa konfrontiert, den die religiös-nationalistische Führung mit Verhängung des Ausnahmezustands, Massensäuberungen und zuletzt einem möglicherweise manipuliertem Volksentscheid über die Einführung eines Präsidialregimes fuhr. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn sprach sich zu Wochenbeginn erstmals für eine "Neubewertung" der Beziehungen zur Türkei aus. Hahn nannte eine aufgewertete Zollunion mit der Türkei als Alternative zu einem Beitritt. Kurz vor Beginn einer Türkei-Debatte im Europaparlament am Mittwoch zog die Türkei-Berichterstatterin des Parlaments, die niederländische Sozialdemokratin Kati Piri, eine neue Linie. Mit einer solchen Verfassung könne die Türkei nicht EU-Mitglied werden, sagte Piri. "Es macht auch keinen Sinn, die Diskussionen über einen Beitritt fortzusetzen."

Die türkische Regierung und Präsident Erdogan reagieren ebenso erbost wie konsterniert auf die Ansagen aus Brüssel und Straßburg. Sie wollten nach dem Verfassungsreferendum vom 16. April eigentlich selbst das Tempo der Abrechnung mit Europa bestimmen. Der knappe Ausgang des Volksentscheids überrumpelte aber Präsidentenpalast und Regierungspartei. Statt eines 60-Prozent-Siegs, wie ihn Erdogan angekündigt hatte, gab es ein schmales Ergebnis von 51,4 Prozent. Seither herrscht Konfusion.

Regierungschef Yildirim soll seinen Rücktritt als Parteichef angeboten haben

Vorgezogene Neuwahlen im Herbst dieses Jahres, um den Verfassungswechsel schneller in Kraft treten zu lassen, scheinen Erdogan und seinen Vertrauten nun zu riskant. Doch auch eine lange Übergangsphase gilt als problematisch. Der reguläre Wahltermin für Parlament und Präsident ist erst im November 2019. Regierungschef Binali Yildirim soll Erdogan nun zumindest seinen Rücktritt als Parteichef angeboten haben. Auf einem Sonderparteitag der konservativ-islamischen AKP Ende Mai würde Erdogan dann wieder den Posten des Vorsitzenden übernehmen; denn hatte er nach dem Wechsel ins Amt des Staatschefs 2014 abgeben müssen. Ein sofort wirksam gewordene Verfassungsänderung lässt einen "parteiischen" Präsidenten zu.

Auch eine Regierungsumbildung steht an. Sie soll einen politischen Neubeginn nach dem Referendum signalisieren. Kolportiert wird der Wechsel von Präsidentensprecher Ibrahim Kalin ins Amt des Außenministers. Kalin, ein intellektueller Islamist, soll ebenfalls Ambitionen auf das Amt des Geheimdienstchefs haben. In beiden Funktionen müsste er rasch das Verhältnis zu den USA verbessern. Washington zeigte sich irritiert über die Bombenangriffe der türkischen Armee auf das Hauptquartier der kurdischen Miliz YPG in Nordsyrien, dem wichtigsten Verbündeten der USA auf syrischem Boden im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Die Amerikaner seien zwei Stunden vor dem Angriff informiert worden, verteidigte sich der amtierende türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu am Mittwoch.

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