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Polizisten stehen am 20. Dezember 2016 vor dem zerstörten Lkw am Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin.
© Michael Kappe/picture alliance
Update

Informant mundtot gemacht?: Polizist wirft Innenministerium im Fall Amri schweres Versagen vor

Nach Angaben von Zeugen habe das BKA früh auf den Weihnachtsmarkt-Attentäter Amri hingewiesen. Doch das Ministerium habe den Informanten nicht ernst genommen.

Polizisten aus Nordrhein-Westfalen haben im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz schwere Vorwürfe gegen das Bundesinnenministerium, das Bundeskriminalamt und die Berliner Polizei erhoben.

Ein Kriminalhauptkommissar, der am Donnerstag im Bundestag als Zeuge befragt wurde, sagte, ein Beamter des Bundeskriminalamtes (BKA) habe ihm am Rande einer Besprechung beim Generalbundesanwalt am 23. Februar 2016 gesagt, der V-Mann des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, der damals auf die Gefährlichkeit des späteren Attentäters Anis Amri hingewiesen habe, „mache zu viel Arbeit“.

Diese Auffassung werde auch von „ganz oben“ vertreten, habe ihm der BKA-Beamte in dem Vier-Augen-Gespräch gesagt. Auf seine Nachfrage, wer mit „ganz oben“ gemeint sei, habe der Beamte damals entweder das Innenministerium oder den damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) selbst genannt sowie einen leitenden Kriminaldirektor des BKA im Bereich Staatsschutz.

Bundesinnenministerium weist die Vorwürfe zurück

Er sei nach diesem Gespräch „konsterniert und geschockt“ gewesen und habe darüber auch direkt im Anschluss mit zwei Staatsanwälten gesprochen. Er habe den Eindruck gewonnen, dass der ihm sonst als sehr kompetent bekannte BKA-Beamte „sozusagen als verlängerter Arm diese Meinung so wiedergegeben hat, wie es ihm vorgegeben wurde“.

Der LKA-Mitarbeiter aus NRW sagte, seine Behörde habe damals gegenüber dem BKA und dem LKA in Berlin, wo sich Amri inzwischen häufig aufhielt, klargemacht, dass der Informant absolut glaubwürdig sei und seit vielen Jahren für das LKA arbeite.

Amri hatte am 19. Dezember 2016 in Berlin einen Lastwagen gekapert. Er raste damit über den Weihnachtsmarkt und tötete zwölf Menschen. Nach dem Anschlag floh er nach Italien, wo ihn die Polizei erschoss.

Das Bundesinnenministerium wies am Freitag den Vorwurf zurück, die Leitungsebene des Bundeskriminalamtes und des Ministeriums hätten Anfang 2016 versucht, den Informanten aus dem salafistischen Milieu mundtot zu machen. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Steve Alter, sagte am Freitag in Berlin, diese Aussage „wurde weder wörtlich noch sinngemäß durch den Beamten getätigt“. Zudem sei auszuschließen, dass der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) oder führende BKA-Mitarbeiter entsprechende Weisungen erteilt hätten.

Obmann will Ex-Innenminister de Maizière befragen

„Wenn eine V-Person, die als einzige Quelle auf die Gefahr von Anis Amri aufmerksam gemacht hat, mundtot gemacht werden sollte und das auch vom Innenminister ausgegangen sein soll, wäre das ein erschütternder Skandal“, erklärte der FDP-Obmann im Untersuchungsausschuss, Benjamin Strasser. Eine Befragung von Ex-Innenminister de Maizière zu dem Vorfall sei nun unausweichlich geworden.

„Die Verhinderung von Terroranschlägen scheint dem BKA weniger wichtig gewesen zu sein als die Ausschaltung einer bis dato perfekt informierten Quelle“, kritisierte Martina Renner (Linke). Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic sagte: „Es steht im Raum, dass hier von höchster Stelle gezielt Einfluss darauf genommen wurde, die Ermittlungen gegen Anis Amri zu torpedieren.“

Amri wurde als „unberechenbar“ eingeschätzt

Polizeibeamte aus Nordrhein-Westfalen hatten nach Angaben des Zeugen in den Monaten vor dem Anschlag mehrfach Druck in Berlin gemacht, wo Anis Amri ihrer Ansicht nach damals nur „relativ nachlässig“ überwacht wurde. Eine weitere Beamtin des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, die ebenfalls als Zeugin vernommen wurde, sagte, dass sie Amri „durchaus als gefährlich eingeschätzt habe und als unberechenbar“. Sie sei angesichts seiner radikalen Äußerungen und seines raschen Eintauchens in die deutsche Salafisten-Szene der Überzeugung gewesen, „man muss da ein Auge drauf haben“. Als sie später erfahren habe, dass Amri in Berlin nicht mehr so engmaschig beobachtet wurde, sei bei ihr ein „ungutes Gefühl“ entstanden.

Amri hatte nach seiner Einreise 2015 zunächst in Nordrhein-Westfalen gelebt. In Hildesheim knüpfte er Kontakte zu dem Kreis um den Hassprediger Abu Walaa, der nach Einschätzung der Behörden damals als Statthalter der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in Deutschland agierte und junge Salafisten ermunterte, in das IS-Gebiet auszureisen. Im März 2016 verlegte Amri seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin.

Informant trug auch zu weiteren Ermittlungen bei

Der Informant, der das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt auf die Gefährlichkeit Amris aufmerksam machte, trug auch zu den Ermittlungen über die Abu-Walaa-Gruppe bei, die sich inzwischen in Celle vor Gericht verantworten muss.

Als er von dem Anschlag gehört habe, sei sein erster Gedanke gewesen, „das, was alle meine Kollegen gedacht haben, lass es nicht Amri sein“, sagte der Zeuge aus Nordrhein-Westfalen. Amri habe eine „Privataudienz“ bei Abu Walaa gehabt und sei jemand gewesen, „dem ich einen Anschlag jederzeit zugetraut hätte“. (dpa)

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