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Pippi Langstrumpf, hier gespielt von der Schauspielerin Inger Nilsson, spielt in den jetzt veröffentlichten Kriegstagebüchern von Astrid Lindgren eine Nebenrolle.
© picture alliance / dpa

Schöpferin von Pippi Langstrumpf: Astrid Lindgren: Pippi entdeckte während des Krieges das Licht der Welt

Schweden erhält in diesem Jahr einen neuen Blick auf die Autorin Astrid Lindgren. Ihre Kriegstagebücher offenbaren ihre persönliche Seite, die Weggabe ihres unehelichen Sohnes Lasse war der große Wendepunkt in ihrem Leben.

„Ich habe Angst vor den Russen.“ So beendet im Mai 1945 die noch völlig unbekannte Sekretärin Astrid Lindgren ihre Kriegstagebücher, die sie sechs Jahre lang gewissenhaft geführt hat. Diese Tagebücher, eine Mischung aus Zeitungsausschnitten, Fotografien und persönlichen Beobachtungen, wurden jetzt erstmals publiziert (Krigsdagböcker 1939–1945). Sie offenbaren das, was die später weltweit so erfolgreiche Autorin auch in ihren Kinderbüchern auszeichnen sollte: eine genaue Beobachtungsgabe, eine klare Sprache und einen Fokus auf das Menschliche.

Wie so viele Schweden feiert Lindgren am 7. Mai 1945 die Niederlage Nazideutschlands: „DER KRIEG IST ZU ENDE!“, schreibt sie in Großbuchstaben. Gleichzeitig hat sie Mitleid mit den Verlierern. „Alle diese armen kleinen Soldaten in der ganzen Welt!“, kommentiert sie das Bild eines weinenden 16-Jährigen in Wehrmachtsuniform, der gerade von US-Truppen festgenommen wird.

Astrid Lindgren wusste frühzeitig Bescheid über die Nazi-Gräueltaten

Die im Jahr 2002 verstorbene Lindgren wusste sehr genau Bescheid über die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Schon 1940 erwähnt sie die Konzentrationslager in Oranienburg und Buchenwald. „Es gibt keine Worte für das Leiden der armen Juden, deren verzweifelte Bitten um irgendein Visum und eine Einreisegenehmigung ich täglich lese.“ Lesen von Briefen war Lindgrens Job während des Krieges. Sie arbeitete für die schwedische Zensurbehörde. Sie zögerte nicht, so manche Korrespondenz vorschriftswidrig abzuschreiben und wortwörtlich in ihrem Tagebuch zu zitieren. Sorgfältig eingeklebte Zeitungsartikel widerlegen aber auch die gern gepflegte Mär, wonach die „normalen“ Schweden nichts vom Holocaust wissen konnten. Der Sowjetunion als Befreier begegnet die junge Astrid Lindgren jedoch ebenfalls mit größter Skepsis.

In diesem Jahr sind zahlreiche Veröffentlichungen über die 2002 verstorbene Astrid Lindgren erschienen. Hier ein Bild aus dem Jahr 1997.
In diesem Jahr sind zahlreiche Veröffentlichungen über die 2002 verstorbene Astrid Lindgren erschienen. Hier ein Bild aus dem Jahr 1997.
© dpa

Die Kriegstagebücher offenbaren auch eine zutiefst persönliche Seite Lindgrens. Ihr Mann Sture, charmant und attraktiv, dem Alkohol und den Frauen zugeneigt, will sich scheiden lassen. „Ein Erdbeben hat mein Dasein erschüttert. Ich sitze hier allein und fröstele“, schreibt die Mutter zweier kleiner Kinder im Juli 1944. „Blut fließt, Menschen werden versehrt, Elend und Verzweiflung überall – und mir ist es egal. Ich denke nur an meine eigenen Probleme“, notiert sie erstaunt mit schlechtem Gewissen. Doch Sture Lindgren bleibt, die Ehe hält bis zu dessen frühem Tod 1952. Die Krise ist überstanden.

Pippi Langstrumpf spielte in ihren Kriegstagebüchern eine Nebenrolle

Eine Nebenrolle in den Kriegstagebüchern spielt die Person, die Astrid Lindgren später Weltruhm bescheren sollte: Pippi Langstrumpf. Pippi erblickte während des Krieges das Licht der Welt. Ihre Entstehungsgeschichte ist in Schweden Allgemeingut: Als Lindgrens Tochter Karin 1941 mit Lungenentzündung im Bett lag, sagte sie zu ihrer Mutter: „Erzähl mir was von Pippi Langstrumpf!“ Der ungewöhnliche Name entsprang Karins Fantasie und die nicht minder fantasiebegabte Mama erfand dazu ein ungewöhnliches Mädchen: die starke Pippi mit den roten Zöpfen. Drei Jahre später, als Lindgren wegen eines verstauchten Fußes ans Haus gebunden war, schrieb sie die Geschichte auf und schenkte sie Tochter Karin am 21. Mai 1944 zum zehnten Geburtstag. Das Buch, das die Kinderliteratur revolutionierte, erschien schließlich im November 1945 im kleinen Rabén & Sjögren-Verlag. Der Rest ist Geschichte.

Diese Geschichte verdrehten Verlag und Erbengemeinschaft in diesem Jahr unverständlicherweise, indem sie kurzerhand den 21. Mai 2015 werbewirksam zum 70. Geburtstag Pippis erklärten. Korrekterweise ist es Pippis 71. Geburtstag, doch solche Details hinderten die Akteure nicht daran, eine weltweite Feiermaschinerie in Gang zu setzen. Dabei hat Astrid Lindgren solch künstliche Reklame gar nicht nötig. Mit rund 150 Millionen verkauften Büchern gehört sie zu den erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen der Welt.

Während sie in Deutschland vor allem für die Verbreitung der Bullerbü-Idylle bekannt wurde, war sie in Schweden das moralische Gewissen des Landes. „Ich bin die Beichtmutter der Nation“, sagte sie einmal und war darüber nicht nur glücklich. Gleichzeitig engagierte sie sich gesellschaftspolitisch. Mit ihrer Kritik an hohen Steuern trug sie 1976 zum Sturz der sozialdemokratischen Regierung bei, sie kämpfte zudem gegen die Kernkraft und für Kinder- und Tierrechte.

Doch die zarte Frau mit der feinen Nase, den dünnen Lippen, der einmaligen Stimme – wer einmal Astrid Lindgren ihre Geschichten vorlesen gehört hat, kann schwerlich andere Versionen ertragen – und dem immer gegenwärtigen Humor hatte auch eine melancholische Seite. Eine neue Biografie des dänischen Literaturwissenschaftlers Jens Andersen und eine dreiteilige Fernsehdokumentation der Journalistin Kristina Lindström erstaunten Anfang des Jahres die schwedische Öffentlichkeit, die glaubte, schon alles über „ihre“ Astrid zu wissen.

Mit 19 Jahren wird sie von einem verheirateten Chefredakteur schwanger

Beide Werke konzentrieren sich auf den großen Wendepunkt in Lindgrens Leben. Mit 19 Jahren wird die junge Volontärin vom wesentlich älteren und verheirateten Chefredakteur der „Vimmerby Zeitung“ schwanger. Ein Skandal in der småländischen Idylle, ein Schlag für Astrids gläubige Eltern. Die 19-Jährige flieht Vimmerby und bringt ihren Sohn Lasse in einem Kopenhagener Krankenhaus anonym zur Welt. Sie zieht nach Stockholm, wird Sekretärin und schlägt sich alleine durch – arm und einsam. Den kleinen Lasse musste sie bei einer dänischen Pflegefamilie lassen. Erst vier Jahre später, vor ihrer Heirat mit Sture Lindgren, holt sie ihren Sohn zu sich.

„Astrid hat sich selbst nie verziehen, dass sie ihn weggab“, sagt Enkel Nils Nyman in der TV-Dokumentation. Der Sohn stirbt 1986 sechzehn Jahre vor der Mutter. „Schriftstellerin wäre ich wohl allemal geworden“, erklärte Astrid Lindgren rückblickend, „aber ohne das mit Lasse wohl nie eine berühmte.“

Karin Bock-Häggmark

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