Wie weiter mit China?: Pekings pro-russische Neutralität fordert Deutschland und Paris neu heraus
Lange haben Paris und Berlin sich davor gedrückt, eine gemeinsame Agenda für ihre China-Politik zu formulieren. Jetzt muss sie kommen. Ein Gastbeitrag.
- François Godement ist Senior Advisor für Asien am Pariser Thinktank Institut Montaigne. Mikko Huotari ist Direktor des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Mehr unter merics.org. Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Wessling
Russlands Einmarsch in die Ukraine hat auch deutlich gemacht, dass China die Sicherheit Europas herausfordert. Peking und Moskau eint die Ablehnung der Nato – und der Demokratie. Gegenseitige Unterstützung und „grenzenlose“ Kooperation haben sich beide Staaten in die Hand versprochen, daran ändert auch Chinas Ankündigung, sich für Waffenstillstände und „humanitäre Korridore“ in der Ukraine einzusetzen, erst einmal nichts.
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Chinas quasi pro-russische Neutralität im Ukraine-Konflikt zeigt auf, dass der von der Europäischen Union im Jahr 2019 definierte Dreiklang „Kooperation, Wettbewerb, Systemkonkurrenz“ zur Beschreibung des Verhältnisses zu China so gleichgewichtet mehr funktioniert: Pekings Blockade europäischer Importe mit litauischen Komponenten – motiviert durch den Streit um die taiwanische Vertretung in Vilnius – bedroht die wirtschaftliche Sicherheit des EU-Binnenmarkts. Und Chinas vor fast genau einem Jahr erlassene Sanktionen gegen EU- Parlamentarier und Forschungseinrichtungen sind ein anhaltender Affront gegen demokratische Grundlagen und Meinungsfreiheit in Europa.
In vielen Themen ist Zusammenarbeit erforderlich
Auf der anderen Seite zieht China als Markt und Innovationsstandort weiterhin westliche Unternehmen an. Und es gibt Themen, bei denen Zusammenarbeit erforderlich wäre: Dazu gehören die Energie- und Klimapolitik, sowie die Entwicklung von Standards für Infrastrukturinvestitionen und Entwicklungshilfe in Drittländern. Theoretisch könnten Europa und China bei der Konfliktprävention und -vermittlung mehr kooperieren, auch wenn diese Option mit Blick auf Chinas Haltung zum Krieg in der Ukraine derzeit nicht realistisch zu sein scheint.
Deutschland geht es um Industrie, Frankreich um Technologie und Luxusgüter
In der Bewertung Chinas haben sich Frankreich und Deutschland nie grundlegend voneinander unterschieden, aber beide Länder haben verschieden auf Herausforderungen reagiert. Begründet liegt dies in der Art der jeweiligen Wirtschaftsbeziehungen zu China. Deutschland fokussiert auf die Expansion der deutschen Großindustrie in China, für Frankreich sind hingegen neben Hochtechnologie- Bereichen der Luxusgüter- und Kosmetikmarkt sowie die Landwirtschaft bedeutend.
Frankreich ist zudem als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats und mit seiner Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum im Umgang mit China traditionell stärker diplomatisch- strategisch motiviert, während Deutschland vor allem kommerzielle Interessen im Blick hatte.
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Beide Staaten haben sich lange schwergetan, eine gemeinsame Agenda mit Peking zu definieren. Doch nun zwingt sie auch die wachsende chinesische Konkurrenz im Industrie- und Hightech-Sektor zur Annäherung. China ist heute in Europa auch politisch aktiver: Verdeckte Einflussnahme und Versuche, europäische Akteure gegeneinander auszuspielen, fordern europäische Einigkeit heraus. China legt die Regeln der multilateralen Zusammenarbeit oft entlang eigener Interessen aus. Deshalb ist es sowohl in Paris als auch Berlin schwieriger geworden, Ansätze für Kooperation mit Peking zu finden.
Was die künftige Gestaltung der EU-China-Politik angeht, sollten Paris und Berlin drei Bereiche in den Vordergrund stellen: wirtschaftliche Sicherheit, aktive Industrie- und Innovationspolitik und eine asiatisch-pazifische Sicherheitspolitik, die Interessenkonflikten in der Region Rechnung trägt.
Europa muss seine Volkswirtschaften absichern
Stichwort wirtschaftliche Sicherheit: Unter Staats- und Parteichef Xi Jinping ist China geopolitisch in die Offensive gegangen. Europa muss in dieser Situation seine Volkswirtschaften absichern, gerade wenn – wie derzeit der Fall – Handel und Investitionen aus und in Richtung China weiter ansteigen. Es gilt, Schwachstellen in europäischen Lieferketten mit China zu identifizieren, mit Blick auf wichtige Rohstoffe und Güter Abhängigkeiten zu reduzieren und vor Technologietransfers Risiken einer potenziellen militärischen Nutzung zu prüfen. Dies bedeutet keineswegs vollständige „Abkopplung“ („Decoupling“) von Chinas Wirtschaft.
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Doch auf Xis Bestreben, die einheimische Wirtschaft eigenständiger und unabhängiger vom Ausland zu machen, muss die Europäische Union reagieren. Mit verschärften Kontrollen für europäische Technologieexporte, Investitionsprüfungen und der Regulierung der 5G-Netze sind bereits wichtige Schritte getan worden.
Die geplanten Mittel müssen unbürokratisch verfügbar gemacht werden
Stichwort aktive Industrie- und Innovationspolitik: Europa braucht gemeinsame Antworten auf Chinas Innovations- und Hightech-Offensive. Wachsende Konkurrenz aus China wird die europäischen Volkswirtschaften unter Druck setzen. Frankreich und Deutschland müssen gemeinsam eine Politik voranbringen, die einheimische Innovation und Marktwettbewerb fördert. Die dafür von der EU geplanten Mittel müssen unbürokratisch verfügbar gemacht werden.
Deutsche Ansätze wie die mit Beteiligung der Wirtschaft „von unten nach oben“ entworfene „Industrie 4.0“ und der französische Ansatz staatlicher Innovationslenkung von oben können sich sinnvoll ergänzen. Es wird wichtig sein, kulturelle Unterschiede in der Herangehensweise zu überwinden und Synergien zu nutzen, um Europa in Sachen Innovation gegenüber China strategisch aufzustellen und resilienter zu machen.
Stichwort Sicherheitspolitik: Die eigentliche Bewährungsprobe für deutsch-französische Impulse für die EU-China-Politik ist die sich wandelnde geopolitische Lage. Der russische Einmarsch in die Ukraine und Chinas Unterstützung für Russland müssen auch in diesem Kontext gesehen werden: Eine echte neutrale chinesische Haltung könnte Europa aus pragmatischen Gründen hinnehmen.
Die Beziehungen zwischen der EU und China wären jedoch dauerhaft beschädigt, sollte China sich in den kommenden Wochen weiter auf Russlands Seite stellen. Im asiatisch-pazifischen Raum fordert das offensive und revisionistische Gebaren Chinas, insbesondere das Verhalten gegenüber Taiwan, genau die Grundsätze heraus, auf denen die EU begründet ist.
All diese Entwicklungen zeigen: Es ist nicht sinnvoll, Fragen der Wirtschaftszusammenarbeit und der politischen Beziehungen zu China voneinander abzukoppeln. Die EU muss die Handels-, Investitions- und Technologiebeziehungen mit den USA vertiefen und politisch gleichgesinnte asiatische Partner unterstützen, indem sie in der Region für Souveränität und völkerrechtliche Standards eintritt. China wird sich zum Teil kooperativ, in der Praxis aber oft widerständig zeigen. Die transatlantische Einigkeit wurde gerade durch die dramatischen Ereignisse in der Ukraine gestärkt. Für eine wirksame EU-Politik gegenüber China wird deutsch-französische Einigkeit der Schlüssel sein.
François Godement, Mikko Huotari