100 Tage im Vatikan: Papst Franziskus zeigt Volksnähe und Modernität
Er isst nie allein, er mag weder Brokat noch Roms Übermacht. Eine Bilanz von 100 Tagen Papst Franziskus.
100 Tage ist Papst Franziskus im Amt und Lateinamerika bereits um zwei Heilige reicher. Er hat Fußball im Vatikan etabliert, weiblichen Gefangenen die Füße gewaschen und den Weg frei gemacht für die Seligsprechung von Bischof Oscar Arnulfo Romero, der von rechten Todesschwadronen ermordet wurde. Er verzichtet auf Luxuskarossen und aufwendige Sicherheitsvorkehrungen. Mit solchen Gesten hat Franziskus die Herzen der Latinos im Sturm erobert. „Vieles deutet darauf hin, dass Franziskus’ Pontifikat eine Mischung aus der Volksnähe von Johannes Paul II. und der Modernität von Johannes XXIII wird“, prophezeit der peruanische Kommentator Alvaro Vargas Llosa.
Eines hat Franziskus auf jeden Fall geschafft: nicht mehr die Kirchenskandale sind Thema Nummer eins in den Medien, sondern der frische Wind, den er in den Vatikan bringt. Doch die Probleme harren einer Lösung, und nicht alle sind gleichermaßen optimistisch, was den Reformeifer des neuen Papstes anbelangt. Immerhin wurde Franziskus verdächtigt, Befreiungstheologen der argentinischen Militärdiktatur ausgeliefert zu haben. Auch wenn die Vorwürfe nicht klar nachgewiesen wurden: dass Franziskus damals keine heldenhafte Rolle spielte und in Moralfragen ebenso konservativ ist wie seine Vorgänger, steht für den mexikanischen Kirchenexperten Bernardo Barranco fest. Und dass er ausgerechnet den honduranischen Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga zum Vorsitzenden der Reformkommission ernannt hat, stimmt manche skeptisch. Der hat 2009 nicht nur den Putsch in seiner Heimat unterstützt, sondern auch eine „jüdische Lobby“ für das „mediale Aufbauschen der kirchlichen Missbrauchsskandale“ verantwortlich gemacht. „Drei der Kardinäle der Reformkommission sollen Kinderschänder gedeckt haben“, kritisiert der Kirchenwissenschaftler Daniel Alvarez von der Internationalen Universität von Florida.
„Der Papst hat klare Zeichen gesetzt, dass er die Kirche von innen heraus verändern will“, meint hingegen der Herausgeber der chilenischen Kirchenzeitschrift Reflexión y Liberación, Jaime Escobar. Dabei gehe es letztlich um Dezentralisierung, meint der mexikanische Pfarrer und Leiter der Basisgemeinden, Jose Sánchez. Die aber gehe einher mit Machtverlust in Rom. Daher hofft Sánchez auch auf einen neuen Frühling für die Laien und die Basisgemeinden, die bisher an der kurzen Leine gehalten wurden. Dass Franziskus’ erste Auslandsreise nach Brasilien führt – Hochburg der linken Befreiungstheologie – sieht er als Zeichen.
Das Erscheinungsbild des Vatikans in Rom ist bereits deutlich verändert: Verschwunden sind aus den Gottesdiensten die „Gardinen“, jene fast nur aus Spitze bestehenden Chorröcke seiner Assistenten; Jorge Mario Bergoglio selbst hat sich bisher keines der Messgewänder aus Goldbrokat umgelegt. Und nicht nur, dass er auf die roten Schuhe verzichtet, die Joseph Ratzinger als Papst für unentbehrlich hielt: Bei der Generalaudienz an diesem Mittwoch trug Franziskus zum Entsetzen seiner Umgebung unter der weißen Soutane auch noch seine schwarze Klerikerhose.
Das herrschaftlich-barocke Schau-Ambiente des Apostolischen Palasts benutzt Franziskus höchstens vormittags: zum Empfang von Staatsgästen. Den Rest erledigt er im Hotel, dem vatikanischen „Gästehaus Sankt Martha“. Da hat er zwar anders als Benedikt keine vier Schwestern, die ausschließlich ihn umsorgen; da kocht eine Mannschaft für bis zu 120 Gäste gleichzeitig, und Franziskus isst mit allen zusammen im Speisesaal. „Heiliger Vater, darf ich mich zu Ihnen setzen?“, sprach ihn dort der junge philippinische Kardinal Luis Tagle an: „Aber bitte doch, Heiliger Sohn“, antwortete Franziskus. Und während unter seinem Vorgänger selbst die Chef-Kardinäle großer Kurienbehörden monatelang warten mussten, bis man sie ins päpstliche „Appartamento“ vorließ, berichten nun viele im Vatikan, es sei ein Leichtes, mit Franziskus ins Gespräch zu kommen. Kontaktsuche halte er von sich aus.
Seine Zuhörer bittet Franziskus: „Betet für uns Hirten, dass wir arm bleiben, demütig, milde, im Dienst am Volk.“ Ein andermal drückte er es ganz direkt aus: „Der Hirt muss riechen nach seinen Schafen.“ Es sind kurze, aber eindringliche Predigten. In volkstümlicher Sprache. Alle aus dem Stegreif. Nach dem großen „Gott ist Barmherzigkeit“-Auftakt zu Ostern legen sie schrittweise das Denken dieses Papstes offen. Und doch veröffentlicht der Vatikan sie nur in Auszügen. Warum? Um dem Papst die Freiheit zu spontaner, ungeschützter Rede nicht zu nehmen, meinen die einen; Pressesprecher Lombardi sagt, in Schriftform „ginge die Originalität des Mündlichen verloren“. Wie auch immer: Das vatikanische Betriebssystem unterstützt dieses neue Format päpstlich-lehramtlicher Äußerungen bisher nicht.
Eine unter diesen Predigten hat besonderes Aufsehen erregt, weil Franziskus sie mit Hinweis auf den Termin genau am Geburtstag von Benedikt XVI. hielt, am 16. April. Da vermerkte er in geradezu dramatischer Rede, dass das Zweite Vatikanische Konzil, die große Versammlung zur Kirchenreform, auch nach 50 Jahren nicht richtig umgesetzt sei: „Das Konzil war ein schönes Werk des Heiligen Geistes; wir errichten ihm ein Denkmal, aber wir wollen nicht, dass es uns in unseren schönen, bequemen Gewohnheiten stört. Wir wollen nichts verändern, einige wollen sogar zurück.“ Damit aber, fuhr Franziskus fort, „werden wir starrsinnig. Wir wollen den Heiligen Geist zähmen. So geht’s nicht.“