Vormarsch der IS-Brigaden: Obama ordnet Luftangriffe gegen Extremisten im Nordirak an
Die Terror-Brigaden des Islamischen Staates operieren bereits in der Nähe des internationalen Flughafens von Bagdad. Im Nordirak drängen sie die kurdischen Kämpfer zurück. Nun ordnete US-Präsident Obama Luftangriffe gegen die Extremisten an.
Der chaldäische Patriarch Louis Sako spricht von einem "humanitären Desaster", in der irakischen Kurdenhauptstadt Erbil gehen Angst und Panik um. "Die IS-Brigaden rücken in alle Richtungen vor", berichteten Augenzeugen und sprachen von einer "dramatischen Situation". Im Handstreich haben die Gotteskämpfer des "Islamischen Staates" im östlichen Umkreis von Mossul sämtliche von Christen bewohnte Städte erobert, darunter Karakosch, Tal Kaif, Bartella und Karamlesch. Inzwischen stehen ihre Verbände 40 Kilometer vor Erbil im Grenzgebiet zum kurdischen Nordirak. An allen Fronten drängten die Gotteskrieger, denen mittlerweile mindestens 30.000 Mann angehören, die kurdischen Peshmerga zurück.
Nach langem Zögern hat nun US-Präsident Barack Obama grünes Licht für Luftangriffe gegen die Dschihadistengruppe gegeben. Obama erteilte dem Militär den Befehl für "gezielte Luftangriffe", um in der Region eingesetzte US-Militärberater zu schützen und ein Massaker an der Zivilbevölkerung zu verhindern. Außerdem ordnete er den Abwurf von Hilfsgütern für die belagerten Jesiden an.
Immer mehr Städte fallen in die Hände der Radikalen
Mit dem Militäreinsatz will Obama nach eigenen Angaben den Vormarsch der Islamisten auf Erbil stoppen. In der Hauptstadt der autonomen Kurdenregion im Nordirak haben US-Militärberater ein gemeinsames Einsatzzentrum mit der irakischen Armee eingerichtet, die Vereinigten Staaten unterhalten dort außerdem ein Generalkonsulat. Der Präsident gab darüber hinaus einer Bitte der Regierung in Bagdad statt, die irakischen Sicherheitskräfte "wenn nötig" beim Schutz der im Sindschar-Gebirge ausharrenden Jesiden mit Luftangriffen unterstützen.
Seit Wochen fallen immer mehr Städte und Regionen im Nordirak in die Hände der Radikalen. Schon im Juni hatten die Dschihadisten die Millionenstadt Mossul bei einer Blitzoffensive in ihre Gewalt gebracht. Seitdem zwangen sie die Bevölkerung, sich ihrer radikalen Auslegung des islamischen Rechts der Scharia zu beugen. Am Mittwoch hatten die Kurden aus dem Irak, Syrien und der Türkei angekündigt, sich gegen die Dschihadisten zusammenzuschließen.
Die meisten Flüchtlinge haben nur ihre Kleider am Leib
Nach Angaben des chaldäischen Patriarchen Louis Raphaël Sako flüchteten am Donnerstag 100.000 Christen in Richtung Kurdengebiete, die meisten nur mit ihren Kleidern am Leib, viele zu Fuß – die größte Tragödie der irakischen Christen seit dem Sturz von Saddam Hussein. In Rom beschwor Papst Franziskus die internationale Gemeinschaft, die schutzlosen Menschen nicht im Stich zu lassen. Sämtliche Kirchen in den eroberten Städten wurden von den Extremisten entweiht, die Kreuze heruntergerissen, Bibliotheken mit wertvollen Manuskripten zerstört.
Vor den Christen hatten die Gotteskrieger am vergangenen Wochenende bereits 200.000 Jesiden aus der Region Sindshar westlich von Mossul in die Flucht getrieben, von denen sich zehntausende ohne Wasser und Essen in den zerklüfteten Bergen vor den blutrünstigen Angreifern verstecken. Bei einem Massaker sollen hunderte Männer erschossen und ihre Frauen und Töchter als Geiseln genommen worden sein, um sie zu Ehen mit Dschihadisten zu zwingen. Die irakischen Jesiden sprechen überwiegend Kurdisch und werden von islamistischen Arabern als "Teufelsanbeter" und Ketzer verunglimpft. In ihrem über 4000 Jahre alten Glauben vereinen sie Elemente des Islam mit Ideen altpersischer Religionen.
Weder die kurdischen noch die irakischen Streitkräfte scheinen den Gotteskriegern vom "Islamischen Staat" bisher gewachsen, die in den vergangenen Wochen in Syrien und im Irak große Mengen an modernen Waffen, Panzern und Fahrzeugen erbeuten konnten. Im Osten Syriens eroberten sie am Donnerstag eine weitere große Kaserne der Armee von Staatschef Baschar al Assad. Bei den Kämpfen starben nach ersten Angaben dutzende Soldaten, nachdem drei Selbstmordattentäter das Haupttor zu dem Militärgelände aufgesprengt hatten.
Angriff auf den Süden Bagdads
In Bagdad greifen die Dschihadisten offenbar jetzt vom Süden her an, nachdem ihr Vormarsch im Norden nahe der Stadt Samarra vorerst gestoppt werden konnte. IS-Kommandos sollen inzwischen nur noch 20 Kilometer von der südlichen Stadtgrenze von Bagdad entfernt sein und bereits im Umfeld des internationalen Flughafens operieren. Nach Angaben irakischer Geheimdienstler machen sie sich dabei unter anderem ein altes Tunnelsystem zunutze, das unter Saddam Hussein angelegt worden war.
Die Kurden fordern von den USA Luftangriffe auf die Islamisten
Die kurdische Regionalregierung von Erbil richtete angesichts der Eskalation einen dringenden Appell an "die Vereinigten Staaten, die internationale Gemeinschaft und an alle Feinde des Terrorismus", sie mit Luftangriffen und Waffenlieferungen im Kampf gegen die Dschihadisten zu unterstützen. Die Kurden besitzen bisher nur alte sowjetische Panzer, die sie 2003 nach der US-Invasion aus den Depots von Saddam Hussein beschlagnahmen konnten. Die USA schickten in den letzten beiden Monaten etwa 800 Militärberater in den Irak, die vor allem in Bagdad und in Erbil stationiert sind.
"Die nationale Regierung ist unfähig, das Volk zu verteidigen, genauso wie die kurdische Regierung", zitierte die Nachrichtenagentur AFP den chaldäischen Patriarchen Louis Sako. In einer dramatischen Botschaft appellierte das Oberhaupt der irakischen Christen "an alle Menschen guten Willens", denen zu helfen, die nun in tödlicher Gefahr seien. "Ich hoffe", fügte Sako hinzu, "es ist noch nicht zu spät, einen Völkermord zu verhindern."
Keine Einigung im Streit um Regierungschef
Unterdessen gab es im Streit um das Amt des irakischen Regierungschefs auch zum Ende einer in der Verfassung vorgesehenen Frist keine Einigung. Wie das unabhängige Nachrichtenportal "Sumaria News" am Donnerstag meldete, soll das Parlament erst am Sonntag wieder zusammenkommen, um über die Wahl des Ministerpräsidenten zu beraten. Ob dann tatsächlich abgestimmt wird, blieb zunächst offen. Die Frist, binnen derer Präsident Fuad Massum einen Politiker mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragen muss, geht am Donnerstag zu Ende.
Die großen politischen Blöcke streiten sich seit Wochen darum, wer nächster Ministerpräsident wird. Der schiitische Regierungschef Nuri al Maliki besteht auf eine weitere Amtsperiode. Er beruft sich dabei auf die Wahlen Ende April, bei denen seine Rechtsstaats-Koalition als stärkste Kraft abgeschnitten hatte. Allerdings trifft al Maliki bei sunnitischen, kurdischen und auch schiitischen Politiker auf starken Widerstand.
Der Vormarsch der Terrorgruppe IS ist nur deshalb möglich, weil sich viele Sunniten mit den radikalen Milizen verbündet haben und Seite an Seite mit ihnen kämpfen. Dass es dazu gekommen ist, liegt an der Politik in Bagdad in den vergangenen Jahren. Seit seinem Amtsantritt 2006 grenzt al Malikis Regierung die Sunniten von der Macht aus. So hat er sie in die Arme der Extremisten getrieben. Dass der Konflikt jedoch derart eskalieren konnte, ist nicht allein ihm anzulasten. Seitdem der frühere Diktator Saddam Hussein 1980 den Iran angriff, kennt das Land nichts anderes als Kriege, Sanktionen und Unterdrückung. Mehrere Generationen sind mit der Erfahrung aufgewachsen, dass allein das Recht des Stärkeren gilt und dieses mit Waffen durchgesetzt wird. Gewalt zur Beilegung von Konflikten ist in breiten Kreisen der Gesellschaft akzeptiert.
Die IS-Terroristen - ein Heer der Unzufriedenen
Zudem rächen sich einmal mehr zwei grundlegende Entscheidungen nach dem Sturz Saddams durch das US-Militär. Im Mai 2003 befahl der damalige US-Zivilverwalter für den Irak, Paul Bremer, Saddams Armee komplett aufzulösen. Rund 400.000 Soldaten standen plötzlich ohne Einkommen da. Das Militär musste zudem völlig neu aufgebaut werden - darunter leidet ihre Schlagkraft bis heute.
Ähnliche Konsequenzen hatte die angeordnete „Entbaathisierung“ des Landes. Alle Mitglieder von Saddams regierender Baath-Partei mussten damals ihre führende Posten in Staat und Verwaltung räumen, die meisten von ihnen Sunniten. Bis heute fehlt deren Expertise. Aus diesem Heer der Geschassten und Unzufriedenen rekrutiert sich jetzt die Unterstützung für die IS-Terroristen.
Al Maliki und seine Mitstreiter trugen ihren Teil dazu bei, die konfessionelle Spaltung zu vergrößern. Unter Saddam herrschten die Sunniten, obwohl sie in der Minderheit sind. Nach Saddams Sturz übernahmen die Schiiten die Macht. Auf dem Papier ist der Irak zwar eine Demokratie - tatsächlich aber teilten die neuen schiitischen Eliten Macht und Pfründe unter sich auf, wie der britische Irak-Experte Toby Dodge in seinem Buch über das Land bemängelt.
Al Maliki baute zudem einen Schattenstaat auf und vergrößerte seine Machtfülle so immer weiter. Kritiker werfen ihm vor, er regiere wie ein neuer autoritärer Herrscher. So kontrolliert er heute Armee, Polizei und weitere Sicherheitsapparate. An wichtigen Stellen sitzen seine Anhänger, die „Malikijun“, auf die er sich verlassen kann - und die ihn dazu drängen dürften, sein Amt auf keinen Fall aufzugeben. (mit AFP/dpa)