Nach dem Zschäpe-Urteil: NSU-Opfer hoffen auf weitere Klage
Trotz des harten Urteils gegen die Hauptangeklagte Zschäpe sind viele Angehörige der NSU-Opfer enttäuscht. Sie wollen, dass die Behörden nun vor Gericht für ihr Handeln geradestehen müssen.
Die Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier NSU-Helfer sind verurteilt, manche zu milde aus Sicht von Angehörigen der Mordopfer - nun hoffen mehrere Familien, dass der Staat juristisch zur Rechenschaft gezogen wird. „Wir möchten, dass ein Gericht in Deutschland feststellt, dass der Staat versagt hat“, sagte die Anwältin der Familie des ersten NSU-Opfers Enver Simsek, Seda Basay, am Donnerstag in Berlin. „Was noch sehr wichtig ist: Bei dieser Klage geht es mir eigentlich gar nicht um das Finanzielle, nicht um das Geld“, sagte der Sohn des Getöteten, Kerim Simsek. „Sondern mir geht es darum, dass der Staat zugibt, versagt zu haben.“
Anwalt Mehmet Daimagüler, der die sogenannte Staatshaftungsklage federführend betreut, bemängelte den Umgang mit Ermittlungsfehlern. „Das Gerede von Sicherheitspannen, von Ermittlungspannen, das ist eine Verniedlichung und Verharmlosung des Geschehenen“, sagte er. „Was wir hier haben, ist ein System.“ Das Bundesjustizministerium hatte am Vortag „Behördenversagen“ eingeräumt.
Jahrelang wurden die Toten und ihr Umfeld verdächtigt
Trotz gegenteiliger Hinweise und aus Mangel an Belegen habe die Polizei jahrelang die Toten und ihr Umfeld verdächtigt, sagte Daimagüler. 150 Zeugen aus dem Polizeidienst, die an den Ermittlungen beteiligt gewesen seien, seien im Laufe des Prozesses befragt worden. „Von denen hat sich ein einziger umgedreht und hat sich entschuldigt“ bei den Angehörigen, sagte er.
Als Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 1998 untertauchten, sei das Trio per Haftbefehl gesucht worden, sagte Basay. Einzelne Verfassungsschutzämter hätten zu diesem Zeitpunkt den Aufenthaltsort der drei gekannt oder ihn feststellen können, weil Telefonate abgehört worden seien. Allerdings hätten die Ämter ihre Informationen nicht an die Polizei weitergegeben. „Wenn man das gemacht hätte, 98 schon, dann hätte man vielleicht die Morde verhindern können“, sagte Basay.
Der NSU beging zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge
Der NSU hatte über Jahre hinweg aus dem Untergrund heraus neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft sowie eine Polizistin ermordet. Darüber hinaus begingen Böhnhardt und Mundlos zwei Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle. Am Ende begingen sie Suizid. Zschäpe hatte mit beiden im Untergrund gelebt und wurde am Mittwoch zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausschließt. Zschäpes vier Mitangeklagte bekamen als Helfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ mehrjährige Haftstrafen, die aus Sicht einiger Angehöriger der Mordopfer zu milde ausfielen.
Die Staatshaftungsklage wurde den Anwälten zufolge schon Ende 2016 beim Landgericht Nürnberg eingereicht und richtet sich gegen die Bundesrepublik sowie Thüringen und Bayern, die auf Schadenersatz verklagt werden. Aktuell ruht die Klage gegen Thüringen, weil das Land laut Daimagüler Aufarbeitung versprochen hat. Drei Familien haben sich der Klage angeschlossen. Nach Angaben Daimagülers könnte das Verfahren bis vor den Bundesgerichtshof gehen und danach auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
"War der NSU wirklich nur ein Trio?"
Der ehemalige Chef des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Clemens Binninger (CDU), hält nach den Urteilen etliche Fragen für ungeklärt. „Die wichtigste offene Frage ist nach wie vor, war der NSU wirklich nur ein Trio?“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Er bezweifele, dass alle 27 Verbrechen allein von Mundlos und Böhnhardt begangen worden seien, ohne dass die beiden auch nur an einem Tatort Spuren hinterlassen hätten. Auch die Auswahl der Opfer und Tatorte werfe Fragen auf: „Manche Tatorte liegen so abseits, dass man eigentlich Ortskunde braucht und sie nicht zufällig entdeckt. Gab es dabei Helfer vor Ort?“ (dpa)
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