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Die Notunterkünfte in Berlin platzen aus allen Nähten.
© dpa

Flüchtlinge in Berlin: Not ohne Unterkunft

Jeden Tag kommen mehr Flüchtlinge nach Berlin. Aber die Stadt hat nicht genügend Platz für sie, weil niemand sie in der Nachbarschaft haben will. Und sich die Politik vor Entscheidungen drückt.

Dieses Haus, das aussieht wie aufeinander gestapelte bunte Container und mitten in einem im Gewerbegebiet liegt, könnte die Lösung sein. Für Flüchtlinge, die in den nächsten Tagen nach Berlin kommen und für die es bisher nichts gibt außer Feldbetten; und für jene, die in Berlin verantwortlich sind für deren Unterbringung. Für Stephan Djacenko zum Beispiel.

Djacenko leitet gemeinsam mit einer Kollegin die sogenannte Unterbringungsleitstelle, die zum Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales gehört. Er steht nun vor diesem bunten Haus, gemeinsam mit drei Männern und zwei Frauen vom Liegenschaftsfonds, die das Haus für das Land Berlin verwalten. Djacenko ist Mitte 40, trägt beige Hose, weißes Hemd, Sandalen und Rucksack, eigentlich ist er Volkswirt, über Umwege landete er in der Berliner Senatsverwaltung. Er ist derjenige, der gleich feststellen wird, ob dieses bunte Haus nun die Lösung ist – oder nicht.

„Gehen wir rein“, sagt er. Früher waren hier Büros, ganz früher eine DDR-Verwaltungsstelle, seit ein paar Jahren steht das Gebäude leer. Drinnen riecht es nach abgestandener Luft, die Gummisohlen von Djacenkos Sandalen quietschen auf dem Linoleumboden. Er steuert den Flucht- und Rettungsplan an, der gleich neben der Eingangstür an der Wand hängt. Die fünf vom Liegenschaftsfonds schauen ihn erwartungsvoll an. Er sieht nicht glücklich aus, kneift seine Augen zusammen, so dass sich auf der Stirn Falten bilden, murmelt, „in die Mitte der Stockwerke müssen wir Duschtrakte bauen, da, wo jetzt die Toiletten sind, könnte die Küche hin. Dauert aber Wochen“.

Doch keine Lösung? Es gibt noch eine Chance. „Der Hof“, sagt Djacenko. Dort könnten provisorisch Kochgelegenheiten und Duschen aufgestellt werden. Dann könnten im Haus schon Menschen leben, während Bäder und Küchen nachgerüstet werden.

Es werden täglich mehr

Die sechs schauen durch ein Fenster hinaus auf die Betonfläche. „Groß genug. Und wo ist der Ausgang zum Hof?“ Schweigen. „Gibt keinen“, antwortet schließlich einer der Männer. Djacenko atmet tief. Schließlich sagt er: „Dann hilft uns das nicht weiter, hier können wir keine Notbelegung machen.“

Das war vor eineinhalb Wochen, an einem Tag, an dem nur noch wenige der insgesamt 6274 Plätze in den 29 Berliner Unterkünften frei waren. Nur zwei Tage später gab es schon keine offiziellen Schlafplätze mehr. Eine Woche darauf schon schliefen 20 Flüchtlinge auf Feldbetten – im Gemeinschaftsraum einer Unterkunft. Und täglich werden es mehr.

Mit dieser Entwicklung haben Djacenko und seine Mitarbeiter gerechnet. Schon seit drei Jahren, seit Dezember 2009, steigt die Zahl der Asylbewerber in Berlin stetig. Heute leben vier Mal so viele in der Stadt wie damals. Konflikte treiben die Menschen aus ihren Heimatländern. Im Winter kommen üblicherweise mehr Flüchtlinge, im Sommer weniger. Nicht aber in diesem. Zu dem derzeitigen Engpass hätte es trotzdem nicht kommen dürfen.

Niemand will Flüchtlinge in seiner Nachbarschaft

Der Grund dafür ist nicht, dass in der Stadt zu wenige Gebäude existieren, die als Flüchtlingsheime infrage kämen. Derzeit liegen Stephan Djacenko allein 16 Dossiers über mögliche Unterkünfte vor. Viele kommen vom Liegenschaftsfonds oder von der landeseigenen Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM), andere von Privateigentümern, fast keine direkt von den Bezirken. Die BIM hatte im Winter fast jeden Monat ein oder mehrere Gebäude zur Verfügung gestellt, die sofort bezogen werden konnten.

Wieso funktioniert das jetzt nicht mehr? Das Problem liegt schlicht darin, dass niemand Flüchtlinge in seinem Bezirk oder in der Nachbarschaft haben will.

Djacenko und seine Mitarbeiter haben mittlerweile gelernt, ziemlich kurzfristig zu planen. Auf die Neuankömmlinge der vergangenen Woche waren sie sogar vorbereitet gewesen. Sie sollten nach Hellersdorf ziehen.

Die ersten Etagen der Unterkunft dort, eine ehemalige Schule, sind so gut wie fertig. Ab kommender Woche sollten dort 200 Flüchtlinge leben. Doch vor zwei Wochen kaperte die NPD eine Informationsversammlung des Bezirksamts zum neuen Heim, machte Stimmung gegen die Flüchtlinge. Wenig später stoppte das Bezirksamt die Bauarbeiten im Gebäude mit der offiziellen Begründung: Die Wände, die gerade in die riesigen Klassenzimmer eingezogen wurden, um Privatsphäre zu schaffen, könnten die Statik gefährden.

Viele Bürger haben Angst, dass Asylbewerber kriminell sind

Gleichzeitig wurde jeglicher Zutritt zum Gebäude verboten. Bisher wurde der Baustopp nicht aufgehoben. Deshalb sucht Stephan Djacenko seit eineinhalb Wochen fieberhaft nach einer neuen Unterkunft, in die innerhalb weniger Tage Flüchtlinge ziehen können.

Beim Gespräch in seinem Büro fixiert er immer wieder seinen Computer. Er wartet auf eine Mail aus dem Hellersdorfer Bezirksamt oder auf eine Nachricht von seiner Chefin, wie es weitergehen soll. Gemeinsam versuchen sie täglich, den Bezirk zu überzeugen, die Unterkunft freizugeben. „Der Baustopp war meiner Ansicht nach zuerst noch gerechtfertigt, formal zumindest“, sagt Djacenko. „Die Wände wurden ohne Prüfstatik eingezogen, das war ein Fehler, hätte nicht passieren dürfen.“ Achselzucken. Dass der Baustopp seit mehr als einer Woche nicht aufgehoben werde, sei wirklich bedauerlich.

Das Recht ist dehnbar

Ob eine Flüchtlingsunterkunft eröffnet oder nicht, entscheiden – bis auf wenige Ausnahmen – Bezirkspolitiker. Die tragen zwar eine gewisse politische Verantwortung, Flüchtlingsheime bereitzustellen, doch verpflichtet sind sie dazu nicht.

Das Baurecht und Stadtplanungsrecht seien dehnbar, sagt Djacenko. Sie könnten mächtige Instrumente zur Unterstützung sein. „Aber eben auch zum Boykott.“ Das größte Problem bei der Suche nach Unterkünften ist wohl, dass die meisten Politiker vor allem daran interessiert sind, Wahlen zu gewinnen. Asylbewerberheime sind bei den Wählern leider nicht beliebt.

Das zeigt auch ein aktueller Vorfall aus Reinickendorf. Dort haben die Eigentümer einer Wohnanlage ihren Spielplatz einzäunen lassen – damit Kinder aus dem benachbarten Asylbewerberheim dort nicht mehr spielen können. Und sie haben einen Anwalt beauftragt, gegen die Unterkunft vorzugehen. Der hat schon Widerspruch eingelegt gegen die vom Bezirksamt erteilte Genehmigung, das ehemalige Pflegeheim nun als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen.

Seit Monaten streiten sich die Bezirke und der Senat, weil das Land Berlin fünf Prozent aller Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen muss. Asylbewerber werden in der Bundesrepublik nach dem sogenannten Königssteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Der Schlüssel regelt ganz allgemein, wie die Ausgaben und Mittel der Bundesrepublik auf die Länder umgelegt werden, berechnet wird nach Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl. Ziel ist es, die finanzielle Last möglichst gerecht zu verteilen. Innerhalb von Berlin ist die Verteilung jedoch nur unverbindlich geregelt. Die Bezirke haben sich in diesem Jahr vage darauf geeinigt, dass jeder einen Teil der Flüchtlinge aufnimmt. Aber nur die wenigsten erfüllen die Vereinbarung.

Diplomatische Tricks, damit ein neues Heim eröffnen kann

Viele Bürger haben offensichtlich Angst, dass Asylbewerber kriminell sind. Die Berliner Polizei aber sagt, dass „die Umgebungen von Flüchtlingsheimen keine Kriminalitätsschwerpunkte sind“. Stephan Djacenko sagt: „Kriminalität braucht Illegalität.“ Asylbewerber seien legal und unter genauer Beobachtung.

Weil die Asylbewerberheime ihr schlechtes Image nicht loswerden, müssen Djacenko und seine Kollegen mit allerlei diplomatischen Tricks arbeiten, um zu erreichen, dass ein neues Heim eröffnen kann. Deshalb darf in diesem Text nicht von einem bestimmten Bezirk die Rede sein, wenn es um die Suche nach Unterkünften geht.

Während Djacenko auf eine Mail aus Hellersdorf wartet, trifft eine Pressemitteilung des Flüchtlingsrats ein. „Rechtswidrige Überbelegung der Berliner Flüchtlingsunterkünfte – am gestrigen Dienstag hat das Landesamt für Gesundheit und Soziales die Betreiber der Sammelunterkünfte angewiesen, alle Gemeinschaftsräume in Schlafräume umzuwandeln“, liest er. „Sehr gut“, sagt er. „Das erhöht vielleicht den Druck auf die Verantwortlichen.“

Er erklärt: „Wir mussten das tun, wir wissen nicht, wie wir sonst übers Wochenende kommen.“ Rechtswidrig sei das übrigens nicht. „Unsere oberste Aufgabe ist es, Flüchtlinge vor der Obdachlosigkeit zu bewahren.“ Er schließt kurz die Augen. „Natürlich ist es nicht schön, wenn Flüchtlinge in Fluren, Gemeinschaftsräumen und Turnhallen untergebracht werden. Aber manchmal geht es leider nicht anders.“ Wenn gar keine Lösung für den Unterbringungsengpass in Sicht ist, müssen die Menschen kurzfristig in Obdachlosenheimen schlafen. Im März war es zuletzt so weit. „Familien mit Kindern!“, ruft Djacenko. „Das soll nie wieder passieren.“

Es kommen mehr Flüchtlinge nach Berlin, als die Stadt aufnehmen kann

Wenn Stephan Djacenko von seinem Büro in der Turmstraße in Berlin-Moabit aus dem Fenster schaut, sieht er die Menschen, für die er gerade verzweifelt eine Bleibe sucht. Sie sitzen auf Bänken und warten, vor und neben sich Plastiktüten, Koffer, Taschen. Im Erdgeschoss des Büroturms, in dem er sitzt, liegt die „Zentrale Asylbewerber Aufnahmeeinrichtung“ des Landes Berlin, die erste Anlaufstelle für alle, die hier Asyl beantragen wollen. Jeden Morgen, wenn Stephan Djacenko zur Arbeit kommt, begegnet er den Flüchtlingen. Wenn er dann besonders viele Menschen sieht, geht er nicht sofort ins Büro, sondern erst zu der Kollegin, die für die Aufnahmeeinrichtung zuständig ist.

Er muss nichts sagen, sie weiß, was er wissen will. Sagt sie, „heute vergeben wir Taschengeld“, oder nennt sie einen anderen Grund für den Andrang, setzt er sich beruhigt an seinen Schreibtisch. Sagt sie, „ich weiß nicht, wieso heute so viele da sind“, bangt er den ganzen Tag: Haben wir genug Plätze?

Verteilung nach dem Zufallsprinzip

Nicht alle Flüchtlinge, die in Berlin Asyl beantragen, bleiben in der Stadt, viele bekommen von den Mitarbeitern der Aufnahmestelle Zug- und Bustickets zu einer Unterkunft in einem anderem Bundesland. In Berlin kommen viel mehr Flüchtlinge an, als das Land nach dem Königssteiner Schlüssel aufnehmen muss. Wer hier bleiben darf und wer gehen muss, bestimmt ein Computer. Wohnen bereits Familienmitglieder anderswo in Deutschland, wird der Neuankömmling zu ihnen geschickt. Bei Asylbewerbern ohne Angehörige entscheidet manchmal auch das Zufallsprinzip.

Wie die Flüchtlinge es bis in die Turmstraße schaffen, weiß hier niemand so genau. Oft geben Freunde und Bekannte in Berlin Auskunft. Manchmal sind Schlepper im Spiel. „Ich habe doch für Berlin bezahlt!“, ruft mancher Flüchtling empört, wenn die Mitarbeiter der Aufnahmeeinrichtung ihn in ein anderes Bundesland schicken.

Oft fehl der politische Wille

Einen Tag nachdem Stephan Djacenko das bunte Haus im Gewerbegebiet besucht hatte, hat er noch einen weiteren Besichtigungstermin in einem anderen Bezirk, ein weiteres Angebot vom Liegenschaftsfonds. Zu dem Termin kamen nicht nur Mitarbeiter vom Fonds, sondern auch der Bezirksbürgermeister, der Baudezernent und Djacenkos Abteilungsleiterin. Die Zusammenarbeit mit diesem Bezirksamt war in der Vergangenheit schwierig. Zwei Gebäude hat das Amt dieses Jahr schon abgelehnt, die Begründung: „nicht genehmigungsfähig, liegt in einem Gewerbegebiet“.

Flüchtlingsunterkünfte sind soziale Einrichtungen. Die dürfen nicht in Wohngebieten stehen und auch nicht in Gewerbegebieten. Theoretisch. Praktisch können Ausnahmeregelungen geltend gemacht werden – wenn der politische Wille da ist. „In der Situation, in der wir uns seit drei Jahren befinden, müssen die Politiker in meinen Augen ihren Ermessensspielraum ausschöpfen“, hatte Djacenko noch vor dieser Besichtigung gesagt, ein wenig wütend.

Das Gebäude, ein ehemaliges Pflegeheim, sah gut aus, die Lösung war es aber nicht. Auch hier müssten noch Küchen und Duschräume eingebaut werden. Schließlich erklärte der Bezirksbürgermeister, für die beiden zuvor abgelehnten Häuser könne man sofort eine Bauvoranfrage stellen. Er will also lieber Asylbewerberheime in den beiden zuvor „als nicht genehmigungsfähig“ abgelehnten Häusern als in dem neuen.

Der nächste Besichtigungstermin steht am kommenden Montag an. Das Gebäude gehört einem privaten Eigentümer. Djacenko ist zuversichtlich, das Dossier war vielversprechend. „Wenn alles gut läuft, können schon am nächsten Mittwoch Flüchtlinge einziehen.“ Das könnte die Lösung sein. Vorübergehend.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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