Waffenruhe erneut gescheitert: Noch verhandelt Putin nur zum Schein
Die Welt sehnt sich nach Friedensgesprächen für die Ukraine. Allerdings fehlen die Voraussetzungen für Zugeständnisse. Es wird erstmal schlimmer. Ein Kommentar.
Na endlich. Am 15. Kriegstag verhandeln Ukrainer und Russen miteinander. Sie reden nicht nur auf untergeordneter Ebene über Fluchtkorridore aus einzelnen Städten. Die Außenminister Dmytro Kuleba und Sergej Lawrow sprechen über das große Ganze: den Krieg und die Interessenkonflikte, die zu ihm geführt haben, sowie Auswege aus dem Töten und Sterben.
Das weckt Hoffnung, auch wenn die erste Runde nicht mal eine Waffenruhe brachte. Es ist ein Anfang. Sie werden weiter verhandeln. Nur: Worauf stützt sich die Hoffnung, dass sie sich bald verständigen werden? Sie folgt den Mustern der Konfliktlösung in demokratischen Gesellschaften.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]
Ob Tarifgespräche oder Koalitionsabkommen: Da sprechen Partner miteinander. Keine Seite fordert von der anderen die Unterwerfung. Gewalt ist keine Option. Selbst der Einsatz physischen Drucks wie Streikrecht und Aussperrung ist zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften geregelt.
Der russische Krieg gegen die Ukraine spielt in einer anderen Welt. Wladimir Putin verachtet das Recht. Er hält militärische Gewalt für das stärkere Argument.
Solange er seine Position auf den Schlachtfeldern verbessern kann, verhandelt er nur zum Schein. Erst wenn die russischen Verluste zu hoch werden und er seine Maximalziele nicht mehr erreichen kann, wird er Kompromisse eingehen.
[Lesen Sie auch: Verhandlungen in Antalya. Viel Theater aber kein Fortschritt zum Frieden. (T+)]
Ähnliches gilt für die Ukraine. Wie soll Präsident Wolodymyr Selenskyj den Bürgern erklären, dass er Gebiete abtritt, während sie mit Mut und Todesverachtung ihre Heimat verteidigen?
Die Gegenwehr ist erfolgreicher als erwartet. Je mehr Verluste die russischen Truppen erleiden, desto mehr Abstriche muss Putin an seinen Kriegszielen machen. Er kann nicht mehr hoffen, den Widerstand zu brechen. Der geht auch in erobertem Gebiet weiter.
Die Kämpfe werden sich sich erstmal verschärfen
Muss man also die Hoffnung auf einen verhandelten Frieden aufgeben? Nein, aber auch Hoffnung ist eine Frage des Timings. Für die nächsten Wochen sollte man sich mit Geduld wappnen. Expertinnen und Experten warnen, die Lage werde sich erst einmal verschlimmern. Aus Zorn über den schleppenden Vormarsch werde Putin zu noch drastischeren Mitteln greifen und den Krieg gegen die Städte forcieren. Es dauert, bis westliche Sanktionen greifen.
Seine Truppen unterbrechen die Versorgung der Zivilisten mit Wasser, Strom, Lebensmitteln. Sie beschießen Kindergärten und Krankenhäuser. Vieles deutet darauf hin, dass dies nicht unbeabsichtigte Nebenwirkungen des Kriegs sind, sondern gezielte Zerstörungen – obwohl das Kriegsverbrechen wären. Schon in Tschetschenien und Syrien gehörte der verbotene Krieg gegen die Zivilbevölkerung zu Putins Strategie. Sie fliehen.
Mehr zum Krieg gegen die Ukraine lesen Sie bei Tagesspiegel Plus:
- Estlands Regierungschefin Kaja Kallas: Ein Diktator versteht nur Stärke.
- Die Suche nach Wegen aus der Gewalt. Wie der Krieg beendet werden könnte.
- Schnelle Eingreiftruppe an die Ostgrenze. Die Nato muss sich auf Worst-Case-Szenarien einstellen.
- Öl und Gas für ukrainisches Blut“: Zwischen dem Westen und Russland zeichnet sich ein Energiekrieg ab
- Sie halten Putin die Pipeline: Die unselige Verflechtung deutscher Energieunternehmen mit Russland
Für westliche Gesellschaften, die im Frieden leben, sind das verstörende Aussichten. Gebietet nicht die Verantwortung, ein Ende des Mordens herbeizuverhandeln – um nahezu jeden Preis?
Niemand kann den Ukrainern vorgeben, wie lange sie sich wehren dürfen
Diese Maxime lässt jedoch die Sicht der Betroffenen außer Acht. Die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine kämpfen um ihre Freiheit und ihre Heimat. Zu welchen Opfern sie bereit sind, kann ihnen niemand von außen vorgeben. Sie müssen entscheiden, wie lange sie widerstehen wollen und wann es keinen Sinn mehr hat.
In ihren Abwägungen schwingt auch die bange Frage mit, welchen Wert Zusagen haben, die Putin am Verhandlungstisch macht. Er hat Absprachen verlässlich gebrochen. Russland hatte in Verträgen garantiert, die Souveränität und die Grenzen der Ukraine zu schützen. In den vergangenen Tagen wurden Fluchtkorridore vereinbart, die dann vermint waren oder beschossen wurden.
Alle Hoffnungen aufgeben: Das darf man nie. Aber sie müssen sich an der Realität messen lassen, im Großen wie im Kleinen. Bis vor kurzem galt als gewiss, dass es Krieg in Europa nicht mehr geben werde. Die auf Recht basierende Friedensordnung sei stärker.
Putin hat diese Gewissheit zu einer reinen Hoffnung degradiert. Er wirft Europa zurück in eine Vergangenheit, in der sich der Stärkere mit Gewalt nahm, was er haben wollte. Man möchte hoffen, dass die Ukrainer das mit westlicher Hilfe verhindern. Denn wenn er damit durchkäme: Welche Hoffnung bleibt Europa dann noch?