Traumatisierte DDR-Gründer: Niemals einen Fehler machen
Die Angst blieb: Andreas Petersen schildert die Spitzenfunktionäre der frühen DDR als vom erlebten Stalin-Terror seelisch deformierte "Moskauer"
Als die DDR unterging, war Werner Eberlein Mitglied des SED-Politbüros. Ein Mann mit langer Parteikarriere, einer, der die DDR seit der Gründung mitgeprägt hatte. Während der Herrschaft von SED-Chef Walter Ulbricht war er Chefdolmetscher im Umgang mit den russischen „Freunden“, dann fast zwei Jahrzehnte lang Leiter der Kaderabteilung im SED-Zentralkomitee ein hundertprozentiger SED-Funktionär, dem jeder Zweifel fremd war. Was er als Jugendlicher erlebt hatte, darüber freilich sprach der 2002 gestorbene Eberlein nie. Wer seine Lebensgeschichte kennt, kann es nur als Hohn werten, dass Werner Eberlein auf dem Berliner Friedhof Friedrichsfelde begraben ist, in der von der DDR-Führung geschaffenen „Gräberanlage für die Opfer und Verfolgten des Naziregimes“. Dort wird auch seines Vaters Hugo Eberlein gedacht.
Werner Eberlein war 15 Jahre alt, als 1938 in Moskau mitten in der Nacht sein Vater abgeholt wurde. Seit 1936 hatten Hugo Eberlein, der die Kommunistische Partei Deutschlands mitbegründet hatte, zusammen mit seiner Partnerin Charlotte Schreckenreuther und dem Sohn in einem Zimmer im Hotel Lux gelebt - so wie viele deutsche Antifaschisten, die nach Hitlers Machtergreifung in die verherrlichte Sowjetunion geflohen waren. Doch die Wirklichkeit im Arbeiterparadies war grauenvoll, nachdem der paranoide Stalin das Land mit unbeschreiblichem Terror überzogen hatte, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Hugo Eberlein, der zusammen mit dem späteren DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck und Hermann Remmele seit 1921 dem KPD-Zentralkomitee angehörte, wurde als angeblicher „Volksfeind“ erschossen. Wenige Tage zuvor war schon Remmele wegen „Teilnahme an einer konterrevolutionären terroristischen Organisation“ verhaftet und später erschossen worden. Eberlein, der zuvor gegenüber Pieck eine Intervention zugunsten Remmeles anmahnte, musste sich von Pieck anhören, dass „wir froh sein können, dass wir solche Schweinehunde wie diesen Hermann auf diese Weise endlich loswerden“.
Auch Hugo Eberleins Familie wurde in Sippenhaft genommen. Sein Bruder wurde ebenfalls erschossen, die Partnerin kam in Haft, wurde später aus der Sowjetunion ausgewiesen und der Gestapo überstellt. Der 15-jährige Sohn Werner verbrachte acht Jahre in einem sibirischen Lager. Erst nach dem Krieg wurde er von Stalin zusammen mit Ulbricht als Kader nach Deutschland geschickt, um die DDR aufzubauen. Als er die frühere Partnerin seines Vaters 1949 zufällig traf, schwiegen beide. „Als ich sie wiedersah“, berichtete Werner Eberlein nach dem Mauerfall, „verspürte ich kein Verlangen nach längeren Gesprächen.“
Unter Stalin, so schreibt Andreas Petersen in seinem Buch „Die Moskauer“, kamen mehr Mitglieder des KPD-Politbüros um Leben als im NS-Staat. Zwei Drittel aller deutschen Spitzenfunktionäre starben durch Hinrichtung oder im Lager. Es war im Furor des NKWD rein zufällig, wer verhaftet und in den Kellern des Geheimdienstes gefoltert wurde. Jeden konnte es treffen, mochten seine Verdienste für die kommunistische Bewegung noch so groß sein.
Selbst viele derer, die der Verschwörung oder der Spionage für Nazideutschland angeklagt wurden, fühlten sich als gute Stalinisten und glaubten bis zur Hinrichtung, sie seien nur aus Versehen verhaftet worden. Das Stalin-System bestand gerade darin, dass jeder zum Opfer werden konnte. Viele Genossen legten sich im Hotel Lux jeden Abend angezogen ins Bett, weil sie nicht wussten, ob sie in der Nacht abgeholt würden. Diese beständige Angst hatte auch Wilhelm Pieck verspürt, der sich in Moskau eilfertig von jedem distanzierte, der in seiner engsten Umgebung verhaftet wurde. Seelisch deformiert waren sie alle, auch jene Kader, die den Terror überlebten. Zahlreiche Funktionäre der ersten DDR-Führungsspitze, mochten sie auch ergebene Stalin-Anhänger sein, waren selber jahrelang im Gulag gewesen oder nur knapp der Erschießung entgangen.
Wer die Jahre des Terrors überlebt hatte, war für sein Leben traumatisiert und zugleich schuldbeladen, weil viele die eigene Existenz nur durch die grundlose Denunziation von Freunden, Familienangehörigen und langjährigen Genossen hatten retten können. Das Ergebnis des Großen Terrors, das beleuchtet Petersen in dem akribisch recherchierten Buch mit vielen Beispielen, war eine von Stalin atomisierte, total ergebene und widerspruchslose Funktionärskaste.
Genau diese Funktionäre, denen die Angst ein steter Begleiter geworden war, sollten nun nach Stalins Willen das bessere Deutschland aufbauen. Apparatschiks, die jederzeit für die Parteilinie die nächsten Freunde zu verraten bereit waren. Kein Wunder, dass jener Neuanfang, der zunächst noch von den in westliche Länder geflüchteten Intellektuellen wie Thomas Mann unterstützt wurde, bald in einem neuen Zwangsregiment endete, wo jeder Widerspruch dazu führen konnte, in dem von den sowjetischen „Freunden“ bis 1950 fortgeführten Konzentrationslager Sachsenhausen zu landen. Die erlebte Gewalt, der Schrecken, die Selbstverleugnungen, Rechtfertigungen, Denunziationen und erzwungenen Selbstkritiken prägten sich für das restliche Leben ein. Unter den Genossen wurde nicht offen gesprochen. Die innere Vereinsamung, der Verlust jeden Vertrauens war das Ergebnis der Terrorerfahrung. Die Angst, „Fehler“ zu machen und nicht der Parteilinie zu entsprechen, durchdrang alle Bereiche.
Für einen Funktionär wie Walter Ulbricht war der Große Terror zugleich die unter Lebensgefahr erlernte Erfahrung, wie man seine Konkurrenten ausschaltet, die eigene Stellung sichert und überlebt, so Andreas Petersen, der ein viel beachtetes Buch über das Leben des aufmüpfigen deutschen Kommunisten Erwin Jöres zwischen KZ und Gulag veröffentlicht hat („Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren“).
Diese DDR, so die These des Autors, hatte unter solchen Startbedingungen und der verbreiteten Paranoia und Denunziation nie die Chance, ein freies Menschenbild zu entwickeln. Petersen zeichnet ein erschreckendes Psychogramm der führenden DDR-Funktionäre. Die Lüge, der Verrat und das Stalin-Trauma prägten den neuen Staat. Die „Moskauer“ kannten keinen Widerspruch. Der Mantel des Schweigens begleitete die Existenz der DDR von ihrer Gründung bis zum Mauerfall. Jeder Funktionär wusste von der Schuld und der Verstrickung der anderen Genossen.
Jene „Moskauer“, die überlebt hatten und nun die DDR nach Stalins Direktiven formten, taten zugleich alles, damit lästige Zeugen sie nicht an ihre eigene Verstrickung erinnern konnten. Keinerlei Hilfestellung gab es für die Bitten von Familien, den Tausenden deutschen Kommunisten, die unter entsetzlichen Bedingungen im sibirischen Gulag schuften mussten, die Rückkehr nach Deutschland - in die DDR - zu ermöglichen. So kamen die kommunistischen Lagerhäftlinge erst frei, nachdem zuvor der verhasste westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer 1956 die letzten Wehrmachtssoldaten heimgeholt hatte. Wer in die DDR ging, wurde zum Schweigen verpflichtet. Wer sich - wie die Tochter des KPD-Mitgründers Hermann Remmele - nicht daran hielt, wurde weiterhin überwacht und drangsaliert.
Zumal die Angst auch in der DDR immer aktuell blieb, weil die sowjetische Geheimpolizei auch in Ost-Deutschland ein dichtes Netz aufbaute. Nach den inszenierten Tribunalen gegen angebliche US-Spione in diversen Staaten des sowjetischen Imperiums wurden auch in der DDR Schauprozesse vorbereitet. Zielobjekt waren vor allem SED-Funktionäre aus jüdischen Familien. Wohl nur der Tod Stalins 1953 verhinderte, dass es auch in der DDR zu einer paranoiden Säuberungswelle kam.
Selbstverleugnung und Verdrängung aber setzten sich bis zum Ende der DDR fort. Der 1886 geborene Altkommunist Gustav Sobottka, in der DDR Minister für Kohle, war selbst Opfer von Stalins Säuberung. Zudem starb sein in Deutschland zurückgebliebener Sohn an den Folgen der KZ-Haft. Der mit nach Moskau gekommene zweite Sohn starb in Stalins Kerkern. Trotzdem schrieb Sobottka in seinem Lebenslauf, „beide Söhne wurden in Nazikeller geworfen und starben an den dort erlittenen körperlichen und gesundheitlichen Schädigungen“.
Andreas Petersen:
Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019. 368 S., 24 €.
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