Ein Jahr nach dem Breivik-Attentat: Nichts ist mehr, wie es war
Heute ist das Ereignis, das ganz Norwegen auf immer prägen wird, genau ein Jahr her. Am Jahrestag der Breivik-Attentate sucht Norwegen weiter den Weg zur Rückkehr in die Normalität.
Die Erinnerung kommt immer wieder. Die an den 22. Juli. An das Sommerlager der Jungsozialdemokraten auf der herrlichen Fjordinsel Utöya. Erst duftete alles nach Sommer, nach Leben. Dann kam das große schwarze Loch, die Todesangst. Die 20-jährige Politologiestudentin Jorid Nordmelan lässt sie zu. Das sei weniger schädlich für die Seele, als sie zu verdrängen, sagen die Therapeuten ihr. Die Angst aushalten, bis sie verpufft, statt sie zu verdrängen. Den 22. Juli überlebte Jorid gemeinsam mit einer Freundin zusammengekauert unter einem Bett in einem Schlafsaal. Nur weil sie die Fenster mit Matratzen verbarrikadiert hatte, konnte Anders Behring Breivik kein Tränengas hineinwerfen und sie hinaus in den sicheren Tod treiben, wie die Jugendlichen, die sich in anderen Gebäuden auf der Insel versteckt hatten. All das geschah in einem der sichersten Länder der Welt. In Norwegen.
Am Sonntag ist das Ereignis, das Jorid und ganz Norwegen für immer prägen wird, genau ein Jahr her. Überall im Land werden Gottesdienste abgehalten, um der Opfer zu gedenken. Ministerpräsident Jens Stoltenberg besuchte Utöya bereits einige Tage zuvor privat und ohne Presse, um sich auf den Jahrestag einzustellen. Am Sonntag wird der Sozialdemokrat mit der königlichen Familie an einem Gottesdienst in der Osloer Kathedrale teilnehmen und auf Utöya eine Rede vor jungen Sozialdemokraten halten. Vor einem Jahr bewies Stoltenberg Führungsstärke und hielt das Land bewundernswert zusammen, so die überwiegende Meinung der Norweger.
Damals, am Freitag, dem 22. Juli 2011, wurden die Norweger jäh aus ihrer Ferienstimmung aufgeschreckt, als der rechtsradikale Islamhasser Anders Behring Breivik mit einer Bombe im Osloer Regierungsviertel acht Menschen tötete. Während man in Oslo und der ganzen Welt automatisch von einem islamistischen Angriff ausging und als Reaktion muslimische Frauen mit Kopftüchern aus der Osloer Straßenbahn geschubst wurden, fuhr der blonde Täter unbehelligt zur Insel Utöya. Dort erschoss er 69 junge Menschen im traditionellen Sommerferienlager der sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation.
Fotoreportage zu den Breivik-Attentaten vor einem Jahr:
Polizisten trauten sich erst eine Stunde nach dem vermeintlich ersten Notruf auf die Insel. Sie sahen dem Morden tatenlos von der Festlandseite aus zu. Die Hubschrauberpiloten der Polizei waren alle im Urlaub. Später legten Minister und führende Polizeibeamte ihre Ämter nieder, angeblich aus privaten Gründen. Die völlig mit der Situation überforderten Sicherheitskräfte entschuldigten sich für ihr Verhalten, und auch dafür, dass sie nicht schon früher auf Breivik aufmerksam wurden. Der hatte ganz offenbar zahlreiche Spuren hinterlassen, als er Material für seine Megabombe mit Düngemitteln im Internet einkaufte sowie eine Polizeiuniform, mit der er seine Opfer täuschte, und Waffen und Munition.
Breivik, der sich im Prozess gegen ihn selbst als Atheisten bezeichnete, erklärte später vor Gericht, er befinde sich in einem Kreuzzug gegen Muslime. Um dies zu untermauern, bat er darum, im Gericht in Militäruniform erscheinen zu dürfen. Dass er hauptsächlich atheistische Sozialdemokraten ermordete, begründete der von Gutachtern als geistig krank eingestufte Einzeltäter damit, die staatstragende Partei dafür bestrafen zu wollen, dass sie so viele muslimische Flüchtlinge nach Norwegen lasse. Die seien ein Dolch in der Kultur des dünn besiedelten Landes, sagte er – und argumentierte damit ähnlich wie die zweitstärkste politische Kraft Norwegens, die ausländerfeindliche Fortschrittspartei (FRP), deren Mitglied Breivik lange war.
Der Breivik-Prozess in Bildern:
Die als Brandstifter kritisierte FRP musste im Herbst 2011 bei den Kommunalwahlen als Konsequenz empfindliche Verluste hinnehmen. „Dennoch hat nun auch der Alltag wieder angefangen, gerade auch politisch sind die Rechtspopulisten wieder im Aufwind, als ob Utöya nie geschehen wäre“, sagt der Politologe Magnus Engen Marsdal von der linksorientierten Denkfabrik Zentrum für Gesellschaftsanalyse in Oslo. Tatsächlich zeigen neueste Umfragen, dass die FRP nach einem Einbruch auf elf Prozent Ende 2011 ihren Stimmanteil nun wieder auf 22,8 Prozent steigern konnte. Damit ist sie wieder zweitstärkste Kraft im Lande, noch vor den Bürgerlichen. Sollten die Sozialdemokraten die Parlamentswahlen in einem Jahr verlieren, könnte also zumindest theoretisch ausgerechnet die offen islamfeindliche Ex-Partei Breiviks eine norwegische Rechtsregierung anführen. Die Sozialdemokraten, Hauptziel des Terrorangriffs, verlieren laut Umfragen erstmals seit Utöya wieder Stimmen und stehen heute bei 32 Prozent. „In einem Jahr könnte die Arbeiterpartei durchaus noch deutlich mehr Sympathiestimmen verlieren“, sagt Marsdal.
Immerhin, so der Rechtspopulismusexperte, hätten sich die Bemühungen um eine Integration von Muslimen in Norwegen seit den Anschlägen deutlich verbessert. „Der harte Kern der Ausländerfeinde ist freilich nicht bekehrt. Aber viele Norweger der Mitte und Muslime sind sich nach dem Anschlag nähergekommen. Sympathien und Verständnis sind gewachsen.“ In Oslo organisierten Muslime Teezusammenkünfte. Auch die königliche Familie setzte sich ein und besuchte muslimische Gemeinden. „Das klingt naiv, ist aber wichtig, weil Norwegen eben nie ein klassisches Einwanderungsland war“, sagt Marsdal. Aus seiner Sicht ist die Situation in Norwegen am ehesten mit der in Deutschland in den 50er oder 60er Jahren zu vergleichen: „Es herrscht viel Unwissenheit und Neugier, außerhalb der Metropolen gibt es aber wenig orientalische Kultur, die wirklich zu uns gewöhnlichen Norwegern hineinschneit“, sagt er. Die positiven Initiativen der vergangenen Monate drohten nun aber wieder einzuschlafen.
„Es ist furchtbar, was passiert ist. Aber ich wähle weiterhin die FRP“, sagte ein Anwohner der Insel schon kurz nach der Tat dem Tagesspiegel. „Wir haben zu viele Einwanderer hier, die nehmen nicht den Direktoren, sondern uns einfachen Leuten die Arbeitsplätze weg. Die Arbeiterpartei ist schon lange nicht mehr da für uns.“
André Anwar
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