Sebastian Edathy, Leiter des NSU-Ausschusses: Nicht zu blauäugig
Sebastian Edathy leitet den Bundestagsausschuss zum „NSU“-Terror. Dort stellte er fest, dass das massive Versagen der Behörden mit „Mentalitätsproblemen“ zu erklären ist. Diese Erkenntnis erzählt auch aus seinem eigenen Leben.
Der Mann, dessen Arbeit darin besteht, Vertrauen zu erschüttern und Unruhe zu stiften, sitzt gleichmütig und still vor seinen Aktenbergen. Zurückgelehnt im Stuhl betrachtet er das akkurat auf dem Schreibtisch aufgeschichtete Papiergebirge, acht Erhebungen, vier davon in erster Reihe, vier dahinter, jede ist ungefähr einen Viertelmeter hoch. Zwei parallel verlaufende Höhenzüge, in deren Täler sich ein Telefon und ein Computer zwängen. Das einzige Indiz für ein bisschen Aufgeregtheit in dieser Landschaft ist die sie umgebende Luft. Es handelt sich um Raucherzimmerluft. Schal vom Qualm ist sie und frisch zugleich, weil das Fenster dauernd einen Spalt weit offen steht. Hier verbringt Sebastian Edathy seine Zeit, um Grundpfeiler bundesrepublikanischer Rechtsstaatlichkeit auf ihre Standfestigkeit zu prüfen. Regelmäßig stellt er dabei fest, dass diese Pfeiler überhaupt nicht existieren.
Ob ihn das selbst – wenn schon nicht jetzt, dann doch gelegentlich – ins Wanken bringe? Er zögert. Eher ist das Gegenteil der Fall, hat der Ernst der Lage ihn offenkundig ruhiger gemacht.
Edathy ist Vorsitzender des Bundestags-Untersuchungsausschusses „Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“. Seit Anfang des vergangenen Jahres arbeiten sich die Ausschussmitglieder durch Papierberge wie auf Edathys Tisch und durch wöchentlich stattfindende Beratungs- und Beweisaufnahmesitzungen. Sie sollen sich laut Untersuchungsauftrag „ein Gesamtbild verschaffen zur Terrorgruppe, ihren Mitgliedern und Taten, ihrem Umfeld und ihren Unterstützern sowie dazu, warum aus ihren Reihen so lange unerkannt schwerste Straftaten begangen werden konnten.“
Warum also konnten unerkannt zehn Morde begangen werden, zwei Sprengstoffanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle? Die vom Untersuchungsausschuss mittlerweile gefundenen Antworten darauf bündelt Edathy in einem Satz. Er sagt: „Wir haben es hier mit dem wahrscheinlich massivsten Behördenversagen in der Geschichte der Bundesrepublik zu tun.“ Er sagt diesen Satz wie nahezu alle seine öffentlich werdenden Sätze in der letzten Zeit nach reiflicher Überlegung. Er gibt keine schnellen Antworten und selten vorlaute. „Wahrscheinlich das massivste Behördenversagen in der Geschichte der Bundesrepublik“ ist eine Minimaldiagnose. Versagen ist menschlich, wohl jeder versagt mal. Darüber, ob dies absichtsvoll oder aufgrund der Umstände oder aus weiß der Geier anderen Gründen geschieht, sagt das Wort „versagen“ nichts aus. Aber immerhin formuliert dieser ganze Satz eben auch einen Superlativ, eine Erkenntnis, zu der man nicht alle Tage kommt. Wirklich keine Erschütterung, Herr Edathy?
Er lässt wieder Überlegungen reifen, dann referiert er. Regel Nummer eins: Der Staat schützt seine Bürger vor Verbrechen. Wenn dies nicht gelingt, gilt Regel Nummer zwei: Verbrechen sind unvoreingenommen und gründlich aufzuklären. „Das sind zwei Kernversprechen des Rechtsstaates“, sagt Edathy, „und beide wurden gebrochen.“
Aber: „Ist ja nicht so, dass ich blauäugig an die Sache rangegangen wäre.“
Wie sollte er auch. Seine Augen sind nun mal nicht blau. „Wir haben es mit einem Ausmaß an Defiziten bei der Arbeit der Sicherheitsbehörden zu tun, das sich nicht alleine mit Strukturproblemen erklären lässt, sondern auch mit Mentalitätsproblemen erklärt werden muss“, sagt er. Druckreif und hinreichend verschachtelt erzählt dieser Satz auch aus Edathys eigenem Leben. Er ist der Sohn einer Frau, die in Deutschland geboren wurde, und eines Mannes, der in Hannover jahrzehntelang evangelischer Gemeindepfarrer war. Der – aber? – irgendwann in längst vergangenen Zeiten einmal aus Indien eingewandert war.
Dem Sohn Sebastian ist das bei etwas schlechtem Willen anzusehen. Die Augen sind nicht blau. Wenn er wollte, könnte er Geschichten erzählen von entsprechenden Erlebnissen bei der Mietwohnungssuche in Berlin, von einer Begegnung mit dem Hamburger SPD-Genossen und Bürgermeister Ortwin Runde, der ihn einmal mit „Nice to meet you“ begrüßt hatte. Geschichten von Bundestags-Saaldienern, die ihn nicht in den Sitzungssaal lassen wollten und von anderen Veranstaltungen im politischen Betrieb, wo er zuverlässig für den Dolmetscher gehalten wurde. Er könnte wiederholen, was er vor der Fußball-WM in Deutschland zum Thema „No-go-Areas“ gesagt hat: „Ich würde mich nachts nicht in eine S-Bahn nach Berlin-Treptow setzen. Auch in Brandenburg würde ich nicht jederzeit überall hinfahren.“ Wenn er wollte.
Aber Edathy scheint nicht mehr zu wollen. Wovon man allerdings ausgehen kann: Die Mentalitätsprobleme mancher Blauäugiger, die kennt er. Er kannte sie bislang vor allem in ihrer anekdotenhaften, vermeintlichen Alltagsharmlosigkeit. Im vergangenen Dezember dann explodierte der Briefkasten seines niedersächsischen Wahlkreisbüros.
Berlin-Tiergarten, Konrad-Adenauer-Straße 1, das Paul-Löbe-Haus, ein Bundestags-Bau. Edathys Büro liegt auf der siebten Etage dieses langgestreckten Gebäuderiegels zwischen Kanzleramt und Spree, der Untersuchungsausschusssaal liegt drei Stockwerke tiefer. Es ist ein Haus, das kein bisschen verheimlicht, aus Beton gebaut zu sein. Es klebt kein Putz an den Wänden, keine Farbe, keine Formsteinplatten sind da und keine Holzverkleidungen. Es sei „das größte Sichtbetongebäude, das jemals in Deutschland errichtet wurde“, hat der Architekt 1999 beim Richtfest gesagt, aus einem Stück gegossen quasi sei es, von monolithischem Charakter war die Rede. Und weil das Haus auch Fenster hat, steht in der bundestagseigenen Gebäudebeschreibung gleich viermal auch das Wort Transparenz.
Das Felsenfeste und das Glas. Wenig hat dem behaupteten Anspruch des Paul-Löbe-Hauses bisher so sehr entsprochen wie der Untersuchungsausschuss zur Terrorgruppe.
Er ist der bislang einzige, der nach einem Antrag aller Bundestagsfraktionen eingerichtet worden ist. Das wiederum hat eine ungekannte Einmütigkeit seiner Mitglieder zur Folge. Beschlüsse werden einstimmig gefasst. Für die Öffentlichkeit bestimmte Auskünfte und Einschätzungen der einzelnen Abgeordneten widersprechen einander nicht.
„Es gibt keinen Zeugen aus irgendeiner Partei, der von uns aus sachfremden Gründen“ – also der Parteizugehörigkeit wegen zum Beispiel – „geschont würde“, sagt Edathy. „Keine Regierungsstelle kann davon ausgehen, dass irgendwelche Unterlagen nicht von uns angefordert werden.“
Edathy von der SPD sagt nach Ausschusssitzungen dasselbe wie seine Genossin Eva Högl, wie Wolfgang Wieland von den Grünen, Clemens Binninger von der CDU oder Petra Pau von der Linken. Manchmal sieht man sie in der „Tagesschau“ zusammenstehen und so etwas wie Staffelstab-Stellungnahmen abgeben. Einer spricht, danach nimmt ein anderer den Faden auf, ergänzt, differenziert, unterstreicht. Alle schauen gleich ernst dabei, und oft auch gleich müde. Wer ihnen dabei zusieht, meint die Konzentration zu bemerken, die mittlerweile nötig ist, um beispielsweise auseinanderzuhalten: Welche Verfassungsschutzbehörde hat jetzt gleich noch einmal wann und angeblich warum welche Akten vernichtet oder verheimlicht?
Das brachte dem Ausschuss Respektsbezeugungen und, jenseits seines Untersuchungsgegenstandes, zusätzliche Aufmerksamkeit. Vom nächsten Mittwoch an wird er die sich teilen müssen mit dem in München beginnenden „NSU“-Prozess. Dort wird dann kein Behördenversagen mehr verhandelt. Keine – wohl bestenfalls – Untätigkeit, sondern die Taten.
Aber noch hört man den Ausschussleuten zu. Deshalb sitzt Edathy an diesem Mittwoch im April, irgendwann zwischen der 62. und der 63. Ausschusssitzung, in diesem Paul-Löbe-Haus-Büro und zieht sein Fazit. Massivstes Behördenversagen, gebrochene Rechtsstaatsversprechen, er spricht von rational nicht nachvollziehbaren Vorgängen beim Verfassungsschutz und von seiner Abneigung gegenüber dem Wort „Ermittlungspannen“. Er bleibt dabei stets auf dem Boden der Sachlichkeit.
Das Sachliche, Abwägende ist immer ein Produkt von Gründlichkeit. In Edathys Fall steht es in direkter Beziehung zu dem Aktengebirge auf seinem Schreibtisch. Es stellt sich ab einer gewissen Gipfelhöhe nahezu unvermeidlich ein. Nur Halbwissen macht unsachlich.
So kommt es, dass Edathy dazu in der Lage ist, einerseits zu kritisieren, dass der türkische Botschafter und der Menschenrechtsbeauftragte des türkischen Parlaments keine reservierte Zuschauerplätze beim Münchner Terroristenprozess bekommen sollen. Sollen die sich „etwa in die Schlange der Besucher einreihen, zusammen mit Neonazis, die zum Prozess wollen“, sagte er Anfang März. Andererseits warnte er vor ein paar Tagen vor Gerichtsschelte wegen des Vergabeverfahrens für die Presseplätze. Diese Gerichtsentscheidung sei zu akzeptieren. Klingt widersprüchlich, ist aber auch ein Beleg für die Fähigkeit, ein paar Dinge auseinanderhalten zu können.
Edathy gehörte zu den Ersten, die im vergangenen Sommer der Öffentlichkeit beschieden, sich doch bitte nicht allzusehr für das Privatleben der Olympiaruderin Nadja Drygalla zu interessieren, nachdem bekannt geworden war, dass sie eine Liebesbeziehung zu einem NPD-Mann hatte. Wo kämen wir denn da hin, fragte er, wenn private Liebschaften einzelner Bürger zum Gegenstand öffentlicher Debatten gemacht würden?
Ein halbes Jahr zuvor schrieb Edathy an die Unwort-des-Jahres-Jury und schlug den Begriff „Döner-Morde“ vor. „Unreflektiert verwendete Wortwahl“, schrieb er, „beleidigend, ausgrenzend und für die Verwendung in einem demokratischen Diskurs unangebracht“.
Die Drygalla-Warnung und der Unwort-Vorschlag sind beides Bitten. Bei der einen geht es darum, nicht zu übertreiben. Etwas genauer hinzusehen, darum geht es bei der anderen. Wenn man so will, fordert Edathy das Land damit auf, ein bisschen so zu werden wie er.
Das kann allerdings dauern. Denn dazu müsste das Land womöglich auch die Erfahrungen nachvollziehen, die Edathy in seinem eigenen Leben gesammelt hat.
Er hat schon einmal einen Ausschuss geleitet. Von 2005 bis 2009 war er der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags gewesen. Er hat also seit langem einen sehr privilegierten Einblick in die deutsche Verbrechens- und Sicherheitspolitik. Von 2010 bis 2011 saß er dem Untersuchungsausschuss „Gorleben“ stellvertretend vor, noch so eine Dickbrettbohrer-Erfahrung. Außerdem ist Edathy älter geworden.
43 Jahre alt ist er jetzt. Er ist damit zwar ungefähr zehn Jahre jünger als der Durchschnitt seiner Bundestagsabgeordneten-Kollegen, aber er hat auch schon lange nicht mehr die CDU des „Biologismus und völkischer Ideologie“ geziehen. Vor fünf Jahren hat er das noch gemacht. Es ging damals um das Staatsbürgerschaftsrecht.
Er hat auch schon einige Zeit lang nicht mehr auf Facebook geschrieben: „Sie können mich mal“, und „Kreuzweise!“, wie immerhin noch vor eineinhalb Jahren, nachdem ihm ein Arzt und Inhaber einer Fotoagentur mitgeteilt hatte: „Sie nutzen hier bei Facebook eine ganze Reihe von Fotos für Ihre politischen Aktivitäten, die nicht von Ihnen sind. Das gleiche gilt auch für Zeitungsartikel bzw. Fotos von Plakaten etc.“ Edathy galt damals als Urheberrechts-Fachmann.
Als der „NSU“-Ausschuss eingesetzt wurde und absehbar war, dass Edathy ihn leiten sollte, warnten andere Abgeordnete noch vor ihm. Der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl, sagte und bezog sich dabei auf eigene Erfahrungen: Edathy sei zu einer unparteiischen, sachlichen Ausschussleitung kaum bereit.
Edathy lächelt. Manschettenknopfhemd, Schlips und Anzugkragen, und obendrüber dieses lächelnde Gesicht, aus dessen Mund nun ein Standardsatz des Dazulerners kommt: „Es ist nicht so einfach“, sagt Edathy, „es ist auch bei der Ausschussarbeit nichts einfach nur Schwarz und Weiß.“ Klar. Binsenweisheit. Aber muss man auch erst einmal drauf kommen. Das schafft nicht jeder.
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