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Unter seinesgleichen. Ungarns Ministerpräsident bei der in Rom ausgerichteten Konferenz der amerikanischen National Conservatism-Bewegung, zu der sich Anfang Februar rechtsgerichtete Kräfte versammelten.
© Alberto Pizzoli/ AFP

Europäischer Revisionismus: Neuer Glanz aus alter Größe

Viktor Orbáns Visionen: Ungarn rüstet mit einem Nationalen Rahmenlehrplan geistig auf. Die Ideen dahinter führen tief ins 20. Jahrhundert zurück.

Ich war nie ein Linker und nie ein Rechter. Schon dem Wort von politischen Lagern begegne ich mit Argwohn. Es erinnert mich an Gefängnisse. Mein Freund György Konrád war einer der Wenigen, die den Mut hatten, um den Preis des Außenseitertums aus ihnen auszubrechen.

Zunächst sprach er sich gegen das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins aus, um es später ohne wirkliche innere Überzeugung doch zu begrüßen. 1999 verurteilte er den Nato-Einsatz in Jugoslawien, und kurz vor seinem Tod im vergangenen September erklärte er Viktor Orbáns Analysen in der Migrationsfrage für zutreffend – trotz seines sonstigen Generalangriffs auf den Soft-Diktator. Der ungarische Ministerpräsident schrieb ihm daraufhin in einem versöhnlichen, durch einen Boten überbrachten Privatbrief, dass man seine Politik dereinst verstehen werde. Konrád vermochte diese Äußerung nicht zu deuten. Ich ahne inzwischen mit leisem Schrecken, was Orbán meinte. Am 31. Januar dieses Jahres wurde der sogenannte Nationale Rahmenlehrplan verabschiedet. Proteste der Lehrerschaft und vieler Intellektueller blieben ergebnislos. Dieser Lehrplan räumt der Landesverteidigung einen höheren Stellenwert als je zuvor ein. Als altem Pazifisten, der als Wehrdienstverweigerer in der DDR 1963/64 im Gefängnis saß, sträuben sich mir die Nackenhaare.

Der Nobelpreisträger Imre Kertész ist nicht mehr Pflichtlektüre

Auch die geistige Aufrüstung geht weiter. So wird Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ im Literaturunterricht nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Stattdessen sollen Albert Wass oder József Nyírö, literarisch gesehen keine schlechten Schriftsteller, aber ausgewiesene Nationalsozialisten, sowie der in der Zwischenkriegszeit viel gelesene Nationalist und Revisionist Ferencz Herczeg, Mitte der zwanziger Jahre sogar für den Nobelpreis nominiert, den Unterricht dominieren.
Vor drei Jahren wurde in Budapest das Imre-Kertész-Institut gegründet. Verantwortlich dafür zeichnet Mária Schmidt, Orbáns Chefhistorikerin und Generaldirektorin des Museums Haus des Terrors. Wie soll man Kertész’ weitgehende Verdrängung aus dem Schulunterricht angesichts der institutionellen Pflege seines Erbes verstehen?

Nun, diese Zweigleisigkeit scheint mir Methode zu haben. Sie legt es darauf an, den Holocaust-Zeugen, Emigranten und unbestechlichen Moralisten von dem Mann zu trennen, der in seinen späten Jahren, nicht ohne einen Funken politischen Opportunismus, wieder eine größere Nähe zu dem Land suchte, das ihn jahrzehntelang gedemütigt hatte.

Die Ungarn stilisieren sich allesamt zu Hitlers Opfern

Die Politik der Orbán-Regierung hat Tradition. Mir kommt das 2014 auf dem Budapester Freiheitsplatz eingeweihte Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der deutschen Okkupation von 1944 in den Sinn. Es handelt sich um ein ästhetisch beeindruckendes Denkmal.

Sein Schönheitsfehler besteht allerdings in der Suggestion, dass Ungarn keine Mitverantwortung an den Schrecken des Zweiten Weltkriegs treffe: Nicht nur die Juden, alle Ungarn seien Opfer des Hitlerismus gewesen. Geflissentlich verschwiegen wird, dass Ungarn Deutschlands Verbündeter war.

Vor zweieinhalb Jahren wurde im III. Budapester Stadtbezirk, auf dem Hof des Hotels Attila versteckt, eine Büste des Reichsverwesers Miklós Horthy enthüllt. Sie ist nicht das einzige Denkmal für das bis 1944 amtierende Staatsoberhaupt - und weitere sollen folgen.

Reichsverweser Horthy kommt zu neuen Ehren

Viktor Orbán erklärte Ende 2015: „Ich persönlich werde übrigens das Aufstellen von Horthy-Denkmälern nicht unterstützen.“ Horthy habe die politische Führung in einer Periode innegehabt, als Ungarn laut Verfassung die nationale Souveränität eingebüßt habe. Er, Orbán, wolle festhalten, dass seine Regierung das Denkmal eines Politikers, der mit Unterdrückern kollaboriert habe unabhängig von dessen sonstigen Verdiensten nicht unterstützen könne.

Schon anderthalb Jahre später, im Juni 2017, bezeichnete Orbán Horthy als Ausnahme-Staatsmann. Horthys Rehabilitierung scheint mir ein wichtiger Baustein in Orbáns nationaler Vision zu sein: Ungarn first! Nun, am 19. März 1944 marschierten deutsche Truppen in Ungarn ein, wenn auch nicht gegen Horthys öffentlich erklärten Willen. Auch kenne ich keine Dokumente, wonach er gegen die Deportation von rund einer halben Million ungarischer Juden nach Auschwitz protestiert hätte.

Im Gegenteil, selbst Adolf Eichmann lobte die Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden. Irgendwie schien es Ungarn eilig zu haben, judenfrei zu werden. Jedenfalls haben sich keine anderen europäischen Länder in Hitlers Einflussbereich so gern in vorauseilendem Gehorsam geübt wie Ungarn.

Ungarns Stalingrad

1943 opferte Horthy am Don die ungarische 2. Armee im Kampf gegen die Rote Armee, vermutlich um nicht die Gunst Deutschlands zu verlieren. Hitler soll die Verluste abschätzig kommentiert haben. Dieses Debakel wird auch als das ungarische Stalingrad bezeichnet.

Von den 200 000 ungarischen Soldaten und den meist jüdischen 50 000 Zwangsarbeitern fielen bei den Kämpfen im Januar 1943 ungefähr 100 000, weitere 35000 wurden verwundet, und 60000 gerieten in Gefangenschaft.Nur 40 000 Soldaten kehrten später aus der Gefangenschaft nach Ungarn zurück.

Und die Judengesetze unter Horthy? Schon 1920 wurde der Numerus clausus eingeführt, nach Protesten jedoch acht Jahre später wieder aufgehoben. Zwischen 1938 und 1943 wurden drei Judengesetze verabschiedet, die teils noch restriktiver waren als die deutschen.

Der Vertrag von Trianon wirkt nach

Der Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 zwang Rumänien, dem Druck des nationalsozialistischen Deutschen Reichs und des faschistischen Italien nachzugeben und große Teile der nach dem Friedensvertrag von Trianon an Rumänien gefallenen Gebiete an Ungarn abzutreten.

Damit war Horthys Traum von der Wiederherstellung Groß-Ungarns teilweise erfüllt; die Revision des Trianoner Friedensvertrags von 1920 war gelungen. Dafür konnte man getrost ein Dankesopfer bringen. Zwischen 1943 und 1945 wurden rund 700 000 Menschen, Bauernopfer, auf dem Altar der Nation dargebracht: 200 000 christliche, 500 000 jüdische Ungarn, von den vielen tausend Zigeunern nicht zu reden. Die mehr als 20 Jahre zwischen dem Trianoner Friedensvertrag und dessen Revision andauernde Gehirnwäsche hatte Früchte getragen. Jeden Morgen begannen die Schüler den Tag mit einem erhebenden Spruch: „Rumpf-Ungarn ist nichts, Groß-Ungarn der Himmel auf Erden.“

Waffengeklirr schadet nur

Wie also soll ich die skizzierten Tendenzen verstehen? Wie soll ich sie einordnen in Orbáns nebulöse Erklärung, dass man seine Politik dereinst verstehen werde? Träumt er etwa von einem weiteren Wiener Schiedsspruch?

Zugegeben, auch mein Herz schlägt für die einst zu Ungarn gehörenden Gebiete und Menschen. Doch ich bin der festen Überzeugung, dass geistiges Waffenklirren gelegentlich zwar die Welt beeinflusst, Gutes indes kaum bewirkt.

Der Autor, 1943 in Leipzig geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer ungarischer Literatur in Budapest. Für seine Verdienste wurde er sowohl in Ungarn wie in Deutschland geehrt, zuletzt 2008 mit einem Bundesverdienstkreuz.

Hans-Henning Paetzke

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