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In Afghanistan müssen Schiiten vor dem IS geschützt werden.
© dpa

Afghanistan: Neue Hochburg für den IS?

Der „Islamische Staat“ breitet sich in Afghanistan immer weiter aus. Das fordert die Taliban heraus und könnte den Konflikt religiös aufladen. Experten warnen vor einem Ende des Aussöhnungsprozesses.

Während der „Islamische Staat“ (IS) in seinem Kerngebiet im Nahen Osten in Bedrängnis ist, gewinnt er in Afghanistan offenbar immer mehr Anhänger. In der östlichen Provinz Nangarhar kontrollieren IS-Einheiten schon seit gut einem Jahr mehrere Distrikte – nun scheinen die Islamisten auch in der zentralen Provinz Ghor Fuß zu fassen.

Das Vorgehen ähnelt dabei den IS-Methoden im Irak und Syrien: Brutale Einschüchterungen und Gewaltangriffe sollen jeden Widerstand im Keim ersticken. Vergangene Woche entführten IS-Kämpfer in Ghor nach Behördenangaben Dutzende Menschen und töteten viele von ihnen. Die Vereinten Nationen sprachen von 26 Opfern, ein Sprecher der Provinzregierung von 30. Die Provinzregierung von Ghor geht davon aus, dass es sich bei dem Angriff um eine Vergeltungsaktion für die Tötung des IS-Anführers durch die afghanischen Streitkräfte handelte. Rund 100 Kämpfer sollen daran beteiligt gewesen sein. Auch einen Schattengouverneur soll der „Islamische Staat“ schon für Ghor benannt haben. „Das zeigt, wie stark sich die Islamisten fühlen“, sagt Omid Nouripour, Grünenpolitiker und Afghanistanexperte seiner Partei.

Ein weiteres Signal für den Aufstieg des IS in Afghanistan aus seiner Sicht: Immer öfter werde über Kämpfe zwischen Taliban und IS-Gruppen berichtet: „Die Taliban fühlen sich eindeutig vom IS bedroht.“ Das „Afghanistan Analysts Network“ (AAN), ein Zusammenschluss unabhängiger Fachleute, hat die Ausbreitung der Dschihadisten am Hindukusch jetzt ausführlich dokumentiert. Demnach hat der IS-Ableger allein in Kabul innerhalb eines Jahres mehr als ein Dutzend Terror-Anschläge für sich reklamiert. Die meisten ereigneten sich seit dem Frühsommer dieses Jahres. Mindestens die Hälfte der Selbstbezichtigungen hält AAN-Experte Borhan Osman für glaubwürdig. Darunter auch den Angriff auf einen von schiitischen Schrein in Kabul, bei dem am 11. Oktober bis zu 20 Menschen starben, und den Selbstmordanschlag auf einen Minibus mit Wachleuten der kanadischen Botschaft, bei dem mindestens 14 Soldaten eines nepalesischen Wachregiments getötet wurden.

Drei Terrorzellen allein in Kabul

Die Tatsache, dass der IS immer wieder mitten in der gut gesicherten afghanischen Hauptstadt zuschlagen kann, zeigt nach Einschätzung Osmans, „dass die Gruppe in Kabul über eine Basis verfügt, die das Aufbaustadium bereits hinter sich gelassen hat“. Der IS sei offenbar logistisch gut aufgestellt und verfüge auch über Planungs- und Aufklärungsfähigkeiten. Außerdem habe er ganz offensichtlich eine größere Zahl erfahrener Kämpfer für sich gewinnen können. Osman hat mindestens drei IS-Terror-Zellen in verschiedenen Stadtteilen Kabuls ausgemacht, die wachsenden Zulauf durch junge Männer haben.

Die Gründe? „Im Vergleich zu den Taliban basiert der IS auf einer sehr einfachen Ideologie, und er ist kompromissloser“, glaubt Nouripour. Attraktiv sei der IS aber auch, weil er seine Kämpfer besser bezahle als die Taliban. Bis zu 1000 US-Dollar erhielten junge Männer beim IS. Das bewege viele Taliban zum Seitenwechsel. Die Nato geht davon aus, dass der IS in Afghanistan derzeit etwa 1000 Mann unter Waffen hat. Auch US-Spezialeinheiten kämpften gegen die Islamisten, so die Auskunft im Kabuler Nato-Hauptquartier. „Wir werden jede Gelegenheit nutzen, um den IS zu bekämpfen“, sagte Brigadegeneral Charles Cleveland dem Tagesspiegel.

Besonders gefährlich ist der IS in Afghanistan, weil seine Anschläge – die sich oft gegen Schiiten richten – offenbar darauf abzielen, die verschiedenen muslimischen Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. Bei aller Gewalt lebten Sunniten und Schiiten in Afghanistan bisher weitgehend in Frieden miteinander. Auch die Taliban stellten das nicht infrage. Ihr Hauptgegner waren stets die afghanischen und internationalen Streitkräfte.

Eine neue Konflikt-Linie würde den ohnehin labilen Aussöhnungsprozess im Land womöglich endgültig zum Scheitern bringen. Die Verbreitung religiösen Hasses könne den afghanischen Konflikt neu anheizen und ihm eine unvorhersehbare Wendung geben, warnt AAN-Experte Osman in einer Analyse. „Politische Konflikte sind wesentlich einfacher zu lösen als religiöse“, schreibt er.

IS-Aufstieg gefährdet Rückführung von Flüchtlingen

Der Aufstieg des „Islamischen Staats“ gefährdet damit auch die Pläne der Bundesregierung, afghanische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken. Bisher argumentiert das Bundesinnenministerium, es gebe in Afghanistan sichere Gebiete, in denen Rückkehrer angesiedelt werden könnten. Doch die Lage könnte sich schnell ändern. Selbst im Norden des Landes, wo die Bundeswehr die afghanischen Sicherheitskräfte weiter bei der Ausbildung unterstützt, ist der IS bereits in Erscheinung getreten.

Beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr heißt es zwar, man habe keine Erkenntnisse über Aktivitäten des „Islamischen Staats“ im Norden des Landes, wie ein Sprecher dem Tagesspiegel sagte. Nach Recherchen von Borhan Osman griffen die sunnitischen Extremisten jedoch am 12. Oktober einen schiitischen Trauerzug in der Provinz Balkh an und töteten 14 Menschen.

Provinzhauptstadt von Balkh ist Masar-i-Scharif, wo sich auch der letzte deutsche Bundeswehr-Stützpunkt in Afghanistan befindet.

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