Schulz & Co: Neue Freude an der Politik
Tausende sind seit der Ausrufung Martin Schulz' zum SPD-Kanzlerkandidaten in Parteien eingetreten, um sich politisch zu engagieren. Nur so kann die Demokratie über den Populismus siegen. Ein Kommentar
Muss man die Agenda 2010 ändern, von der so viele Menschen sagen, dass sie dieses Land nach vorne gebracht hat? Dürfen Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben werden, weil es dort an einigen Orten sicher genug sein soll? Müssen die Militärausgaben in Deutschland deutlich erhöht werden, damit wir auch in Zukunft noch sicher und fernab von Krieg leben können?
Braucht Berlin mehr Fahrradwege und Fußgängerzonen und weniger Platz für Autos und Lkw? Sind die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP Kapitalismus in Reinform oder erhöhen sie den Wohlstand der Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks? Soll die Politik Seen in Brandenburg verstaatlichen, um allen Anwohnern und Besuchern freien Zugang zum Wasser zu gewähren? Wo wollen wir unseren ganzen Atommüll endlagern? Wie retten wir die Europäische Union, und wollen wir das überhaupt?
Es sind große und kleine Fragen, die die Menschen mal mehr und mal weniger umtreiben. Sie haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun und sind doch alle Gegenstand von öffentlicher Debatte, Streit und Politik. Eine Politik, für die sich derzeit immer mehr Menschen wieder zu interessieren scheinen.
Es spielt keine Rolle, welche demokratische Partei davon profitiert
Sichtbarer Auslöser für dies Phänomen sind die tektonischen Verschiebungen in den Umfragen zur nächsten Bundestagswahl im Herbst nach der Ausrufung von Martin Schulz zum zukünftigen Kanzlerkandidaten und Parteichef der SPD. Tausende sind seitdem in die Parteien eingetreten – nicht nur bei den Sozialdemokraten. Auch die politischen Konkurrenten melden vermehrtes Interesse an neuen Parteibüchern.
Es ist – man muss das mal ganz einfach sagen – eine großartige Entwicklung. Die Menschen interessieren sich für Politik und wollen sie mitgestalten. Sie machen das, weil sie überzeugt sind, Politik verändern, die Gesellschaft und das Land mitgestalten zu können. Es ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass Sätze wie „Ich kann ja sowieso nichts ändern“ und „Die da oben machen eh was sie wollen“ keine absolute Gültigkeit besitzen.
Es ist ein Hinweis darauf, dass diese demokratisch verfasste Gesellschaft funktioniert und sich ihre Errungenschaft, friedlich und frei mit einem gewissen Maß an Wohlstand leben zu können, nicht nehmen lassen will. Es ist, unabhängig davon, welche von den demokratischen Parteien am meisten profitiert, ein glücklicher Umstand.
Und es ist eine Verpflichtung. Es ist Verpflichtung zu ehrlicher, faktenbasierter Debatte, Verpflichtung zu einer Auseinandersetzung auf Augenhöhe, in der Minderheiten respektiert werden und ihr freies Wort geschützt ist. Es ist Verpflichtung zu einem fairen Umgang miteinander – abseits von übler Nachrede, Hasskommentaren und Fake News. Rede und Gegenrede. Zuhören statt Niederschreien.
Das alles ist schwierig genug. Die sogenannten sozialen Medien, aber auch die politischen Talkshows im Fernsehen bieten ausreichend Belege dafür, dass hier noch viel passieren muss. Und die Entwicklungen in den USA, der Türkei, im Umfeld von AfD und anderen populistischen Organisationen wie Pegida in Dresden oder Front National in Frankreich zeigen, wie schnell es gehen kann, dass Kritiker von Staatspräsidenten, Partei- und Wortführern mundtot gemacht werden oder gemacht werden sollen.
Wenn der Klügere nicht nachgibt...
Der demokratische Diskurs ist ein schwieriger, ein anstrengender – aber unverzichtbarer Bestandteil dieser Gesellschaft. Ihn zu führen, zu fördern und zu schützen muss Ziel aller sein, denen an Freiheit und friedlichem Zusammensein gelegen ist. Im Freundeskreis und am Arbeitsplatz genauso wie auf Demonstrationen und in den Parlamenten.
Nur, wenn sich eine Mehrheit für Politik engagiert oder zumindest interessiert, gibt es eine Chance, dass die Klügeren am Ende nicht nachgeben und Populisten von links und rechts keine parlamentarischen Mehrheiten bekommen und wieder dahin verschwinden, wo sie hingehören. In die Bedeutungslosigkeit.