Flüchtlingsrouten im Mittelmeer: Nächster Brennpunkt Kreta
Die Zahl der Überfahrten ist sprunghaft gestiegen. Viele Flüchtlinge schaffen es nur bis Kreta - oder nicht einmal das. Die Helfer sind beunruhigt
Im Hafen von Augusta auf Sizilien ist Sonntagabend ein Schiff mit Überlebenden der jüngsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer erwartet worden. 221 Migranten erreichten damit ihr Ziel Italien, nachdem sie drei Tage zuvor, am Donnerstag vergangener Woche, vor Kreta in Seenot geraten waren. 97 weitere Flüchtlinge wurden nach Angaben der griechischen Küstenwache zurück nach Ägypten gebracht. Von dort hatten sie ihre waghalsige Reise in einem 25 Meter langen Fischkutter begonnen.
Zunächst war von bis zu 700 Passagieren die Rede, die von Schleppern auf das Schiff gesetzt worden seien. Aussagen der Überlebenden zufolge waren aber etwa 350 Flüchtlinge an Bord, so gab es die griechische Küstenwache am vergangenen Wochenende an. Neun Leichen wurden bisher im Meer geborgen. Auf dem havarierten Fischkutter suchte die griechische und die ägyptische Marine aber weiter nach Hinweisen.
Fast 2500 Tote seit Jahresanfang
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Genf hatte zuvor Alarm geschlagen, weil sie eine weitere Tragödie mit Hunderten von Ertrunkenen im Mittelmeer befürchtete. Denn die Zahl der Überfahrten großer Flüchtlingsgruppen von der nordafrikanischen Küste in Richtung Italien ist in den vergangenen Wochen wieder sprunghaft angestiegen.
2443 Menschen kamen laut IOM von Jahresbeginn bis 31. Mai im Mittelmeer um; bis zu 900 allein in der letzten Maiwoche, als Schiffe auf halbem Weg von der libyschen Küste nach Sizilien untergingen. Mehr als hundert Leichen waren vergangenen Donnerstag an einem Strand westlich von Tripolis angespült worden. Dort war ein anderes Schiff mit Flüchtlingen untergegangen.
Die Verlagerung der Flüchtlingsströme zum östlichen und zentralen Mittelmeer erklärt sich jetzt durch die vergleichsweise ruhige See, aber auch durch die abschreckende Wirkung der Patrouillen in der Ostägäis und der Internierung von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln gemäß dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei.
Von Ägypten, Libyen und der Türkei aus
Kreta könnte dabei zu einem neuen Brennpunkt werden, wie IOM-Sprecher Joel Millmann warnte. Überfüllte Flüchtlingsschiffe schaffen es auf der Fahrt von Ägypten und Libyen nach Italien nur knapp bis Kreta, bevor sie in Seenot geraten und dann Rettungssignale geben. Griechenlands größte Insel wird offenbar aber auch zur Ausweichroute für Migranten, die von der türkischen Küste bisher schnell nach Lesbos oder Chios übersetzen konnten.
Das jüngste Schiffsunglück vor Kreta – 140 Kilometer vor der Insel noch in ägyptischen Gewässern – ist der dritte Fall innerhalb weniger Tage in diesem Gebiet. Am 27. Mai rettete die griechische Küstenwache bereits 65 Flüchtlinge vor Kreta. Am 31. Mai landeten 113 mehrheitlich afghanische Migranten auf einem Strand bei dem Urlauberstädtchen Agios Nikolaos im Nordosten Kretas. Die Gruppe soll aus Antalya an der türkischen Mittelmeerküste aufgebrochen sein. Zwei mutmaßliche Schlepper – ein Kroate und ein Montenegriner – waren laut griechischen Medien mit dabei und wurden festgenommen.
„Wir sind besorgt über diesen Wechsel“, sagte eine UNHCR-Mitarbeiterin, die wegen des jüngsten Schiffsunglücks nach Kreta flog, aber dann unverrichteter Dinge wieder abzog. Keiner dieser Flüchtlinge wollte tatsächlich nach Kreta, so berichtete sie. Die Küstenwachen aus Griechenland und Ägypten teilten bei ihrem Einsatz die Geretteten auf und setzten sie auf andere Schiffe Richtung Italien oder zurück zur ägyptischen Küste.
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz forderte in einem Interview am Wochenende, die Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer abzufangen und die Passagiere zu internieren oder zurück nach Nordafrika zu schicken. Man müsse den Flüchtlingen klarmachen, „dass die Rettung aus Seenot nicht mit einem Ticket nach Mitteleuropa verbunden ist“, sagte Kurz. Die große Koalition in Wien hat bereits die Schließung der Balkanroute initiiert. Sie sieht sich in der Flüchtlingsfrage durch die rechtsgerichtete FPÖ unter Druck gesetzt. Die Freiheitlichen führen landesweite Umfragen mit großem Abstand an.