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Die Tage am Schreibtisch im Amtszimmer im Schloss Bellevue sind vorbei. Am 15. Juni 2010 wurde Horst Köhler mit einem großen Zapfenstreich verabschiedet.
© dpa

Bundespräsident: Mutmaßungen über einen Rücktritt

Heute wird Horst Köhler feierlich aus dem Amt verabschiedet. Doch die Nation rätselt noch immer über die Motive für seinen Rücktritt. Während der scheidende Präsident beharrlich schweigt, ranken sich mittlerweile viele Gerüchte um den überraschenden Amtsverzicht des Staatsoberhauptes.

Zwei Wochen ist es mittlerweile her, dass Horst Köhler mit sofortiger Wirkung vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten ist. Am 31. Mai hatte er die Hauptstadt-Journalisten kurzfristig ins Schloss Bellevue gebeten. In einer kurzen Erklärung bedauerte er seine missverständlichen Interview-Äußerungen zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan, dann platzte die Bombe. Die "heftige Kritik" lasse den "notwendigen Respekt vor dem höchsten Staatsamt" vermissen, sagte Köhler, griff nach der Hand seiner Frau und ging für immer. Über die möglichen Hintergründe und wahren Motive für den überraschenden Schritt schweigt Köhler seitdem beharrlich. Die meisten Politiker reagierten mit völligem Unverständnis auf diesen Schritt, Journalisten zweifeln die offiziell genannten Gründe an. Viele Bürger, bei denen der Präsident bis zum Schluss äußerst beliebt war, fragen sich weiterhin: warum?

Am Dienstag wird der zurückgetretene Bundespräsident nun ein letztes Mal im Mittelpunkt stehen. Mit einem Großen Zapfenstreich wird Horst Köhler vor dem Schloss Bellevue offiziell verabschiedet. Zum Abschied hat sich Köhler ein Stück klassischen amerikanischen Jazz gewünscht, den "St. Louis Blues" von William Christopher Handy. Tagesspiegel.de nimmt dies zum Anlass, noch einmal den fünfzehn heißesten Gerüchten, die sich in den Medien um seinen Rücktritt ranken, nachzuspüren. Warum hat Horst Köhler tatsächlich die Brocken hingeschmissen? Wer ist schuld am Rücktritt des Präsidenten?

Das Interview - Auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch in Afghanistan hatte Horst Köhler dem Deutschlandfunk ein Interview gegeben. Darin äußert sich der Bundespräsident missverständlich über den Auftrag der Bundeswehr. Er spricht davon, "ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit" müsse auch wissen, "dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren". Nicht dieses Interview, aber die scharfen Reaktionen darauf hat Köhler als einzigen Grund für seinen Rücktritt genannt. Nachvollziehbar ist dies nicht. Kein Wunder, dass seit 14 Tagen die Gerüchteküche brodelt.

Der Spiegel - Das Hamburger Nachrichtenmagazin nimmt das Radio-Interview zum Anlass für einen kleinen Artikel und räsoniert darin unter der Überschrift "Horst Lübke" über das zuletzt wenig glückliche Agieren Köhlers, über dessen fehlenden "politischen Kompass", seinen "dramatischen Autoritätsverlust" und das "Entsetzen" vieler Mitarbeiter. Glaubt man den vielen Medienberichten, dann soll Köhler vor allem über den Vergleich mit Lübke, also mit dem bislang peinlichsten der neun Bundespräsidenten, not amused gewesen sein. Nachdem der Präsident den frisch gedruckten Spiegel-Artikel gelesen hatte, soll sein Entschluss zum Rücktritt gefallen sein.

Jürgen Trittin - Über eine Äußerung des Grünen-Fraktionsvorsitzenden soll sich Horst Köhler ganz besonders geärgert haben. Trittin hatte dem Präsidenten unterstellt, er wolle eine "Kanonenbootpolitik" betreiben, damit eine aberwitzige Parallele zu den imperialen wilhelminischen Zeiten gezogen und hinzugefügt, dies sei "mit unserer Verfassung nicht zu vereinbaren". Hat also der Vorwurf des Verfassungsbruchs und ein schräger historischer Vergleich den Bürgerpräsidenten aus dem Amt getrieben?

Thomas Oppermann - Oder trägt doch ein Sozialdemokrat die Verantwortung für Köhlers Abschied? Zumindest war der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion nach dem Afghanistan-Interview auch alles andere als zimperlich mit dem Präsidenten umgesprungen. Oppermann hatte erklärt, das Grundgesetz erlaube keine Wirtschaftskriege und deshalb schade solches Gerede, "der Akzeptanz der Auslandseinsätze". Zudem rede Köhler damit "der Linkspartei das Wort".

Union und FDP - Nein, möglicherweise ist gar nicht die Opposition schuld am Rücktritt von Horst Köhler, vielmehr könnten es auch die Regierungsparteien sein. CDU, CSU und FDP haben ihren Präsidenten in der Diskussion um das Interview schließlich im Regen stehen lassen, als dieser von SPD, Grünen und Linken angegriffen wurde. So war es in den letzten 14 Tagen vielfach zu lesen und zu hören. In der Tat schickte die Kanzlerin nur eine Sprecherin vor und ließ erklären, die Regierung äußere sich als Verfassungsorgan nicht zu Äußerungen des Verfassungsorgans. Von den Hinterbänken der Regierungsparteien war sogar lautes Murren zu hören. Nicht die Reden der Opposition, sondern das beredte Schweigen seiner politischen Freunde soll Köhler demnach zur Verzweiflung und aus dem Amt getrieben.

Jähzorn - Oder waren es doch weder Regierung noch Opposition? Es gibt zumindest Bellevue-Astrologen, die kolportieren eine andere Geschichte. Sie wissen von charakterlichen Schwächen des Präsidenten zu berichten, von seiner dünnen Haut, seiner aufbrausenden Art und seiner Unberechenbarkeit. Manche Mitarbeiter seien daran schier verzweifelt. War der Rücktritt also eine Kurzschlusshandlung? Ist Horst Köhler vor allem vor sich selbst aus dem Schloss geflohen?

Eva Luise Köhler - Auffällig war schon, wie fest sich Horst Köhler an die Hand seiner Frau klammerte, nachdem er vor zwei Wochen seinen Rücktritt verkündet hatte. Hat also seine Frau, die manchem Zeitungsbericht zufolge auch seine engste Beraterin und vor allem seine letzte verbliebene Beraterin gewesen sein soll, ihren Mann zu diesem Schritt gedrängt? Hat Eva Luise ihrem Horst eingeflüstert, du musst dir nicht alles gefallen lassen?

Angela Merkel - Nur, wenn schon eine Frau schuld sein soll, dann darf der Name Merkel nicht fehlen. Hat sich Horst Köhler etwa darüber geärgert, dass die Kanzlerin in der Finanzkrise so selten seinen Rat gesucht hat? Schließlich ist der Bundespräsident ein international geachteter Finanzexperte. Bevor er ins Schloss Bellevue einzog, war er Leiter des Internationalen Währungsfonds (IWF), nur in Berlin mochte sich daran offenbar niemand mehr erinnern.

Griechenland - Im Eiltempo hat der Bundestag Anfang Mai das milliardenschwere Rettungspaket für den Euro und für Griechenland verabschiedet. Am Ende einer aufregenden Woche musste der Bundespräsident das Gesetz unterzeichnen. Manche Auguren, vor allem die Euro-Kritiker unter ihnen, wollen wissen, dass sich Köhler gedrängt gefühlt habe. Unter enormem Zeitdruck habe er ohne eingehende Prüfung ein Gesetz unterzeichnen müssen, an dem er verfassungsrechtliche Zweifel hegte. Hat er deshalb alles hingeschmissen, oder versuchen da nur ein paar Fans der D-Mark, den Rücktritt des Präsidenten für ihre Interessen zu instrumentalisieren?

Die Bundesregierung - Vielleicht wollte Köhler ja auch einfach nicht mehr Präsident jener bürgerlichen Regierung sein, die ihn einst ins Amt gewählt hatte, um ein schwarz-gelbes Signal zu senden. Jener Regierung, die nun schon seit Monaten demonstriert, wie wenig sie das Regierungshandwerk beherrscht. Vielleicht empfand sich Köhler zuletzt auch als "große Belastung für die Regierung", so zumindest war es auch zu lesen.

Überforderung - Es könnte aber auch sein, dass sich das Bundespräsidentenamt nicht eignet für Seiteneinsteiger, die den hektischen und aufgeregten Berliner Politikbetrieb nicht kennen. Hatte Köhler nach fünf Jahren also eingesehen, dass das Amt zu groß ist für einen ehemaligen Sparkassendirektor aus Ludwigsburg? Konnte er zwar den IWF, also eine der mächtigsten Banken der Welt führen, aber nicht das Deutsche Volk und vor allem dem bürgerlichen Lager keine Orientierung geben? Muss deshalb nun ein alter Fahrensmann der Union sein Nachfolger werden?

Die Krankheit - Es gibt Themen, die sind auch im hektischen Berliner Medienbetrieb noch weitgehend tabu. Dazu gehören die Krankheiten von Spitzenpolitikern. Doch mancher hat sich in Berlin in diesen Tagen nicht daran gehalten, öffentlich über eine "tiefe Depression" des Bundespräsidenten sinniert und so den Blick auf möglicherweise ganz persönliche Rücktrittsgründe gelenkt.

Das Chaos - Glaubt man wiederum Zeitungsberichten, dann ist es im Bundespräsidialamt in den letzten Monaten drunter und drüber gegangen. Streit und Intrigen sollen geherrscht haben, ein neuer Staatssekretär soll dort viel Unheil angerichtet und der langjährige Pressesprecher aus Frust einen neuen Job gesucht haben. Ist Köhler also zurückgetreten, weil er sein Amt nicht mehr im Griff hatte, weil er dort falsch oder schlecht beraten wurde? Haben seine eigenen Leute Horst Köhler bei dem Afghanistan-Interview ins offene Messer laufen lassen? Hat der Bundespräsident deshalb aufgegeben?

Der Bundestag - Als die rot-grüne Bundesregierung 2005 am Ende war und Bundeskanzler Gerhard Schröder sein Heil in Neuwahlen suchte, da stimmte Köhler trotz verfassungsrechtlicher Bedenken der Auflösung des Bundestages zu. Jetzt wollen Journalisten wissen, Köhler habe nicht ein zweites Mal in eine ähnliche Situation geraten wollen. Deshalb habe er rechtzeitig das Weite gesucht, bevor Schwarz-Gelb gescheitert sei und Angela Merkel ihn um die Zustimmung zu vorgezogenen Neuwahlen nachsuchen müsse.

Das Internet - Viele Gerüchte und kein nachvollziehbarer Grund. Aber, wo so viel spekuliert wird, wo so viele Gerüchte und Behauptungen in die Welt gesetzt werden, da darf ein letzter Schuldiger für den Rücktritt des Bundespräsidenten nicht fehlen. Schließlich ist das World Wide Web eine Brutstätte von Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien. Auffällig allerdings war schon, dass das Radiointerview erst mit einigen Tagen Verzögerung jene Empörungswelle auslöste, die Köhler offiziell als Rücktrittsgrund nannte.

Am Pfingstsamstag wurde das Interview ausgestrahlt. Fast schien es zunächst so, als habe sich dieses über die Feiertage versendet. Wie so vieles, was Tag für Tag über den Äther geht und bei dem die Menschen nur mit einem Ohr hinhören. Förderlich für das schnelle Vergessen war dabei auch, dass die umstrittene Textpassage in der zweiten, kürzeren Sendefassung des Interviews vom Deutschland-Radio herausgeschnitten worden war. Angeblich aus Platzgründen. Doch dann griffen Blogger im Internet das Thema auf, kritisierten die Worte des Präsidenten zum Afghanistan-Einsatz, empörten sich darüber, dass Köhler von der Verteidigung deutscher Interessen gesprochen habe. Erst auf diesem Umweg erreichte das umstrittene Interview des Präsidenten mit fünf Tagen Verspätung die etablierten Medien und löste dann die Empörungswelle der Opposition aus. Hat also die Internet-Community den Präsidenten auf dem Gewissen?

Fünfzehn Mutmaßungen und keine Klarheit. Es darf also weiter spekuliert werden, aber manche Gerüchte, die nun kolportiert werden, sind durchaus von eigennützigen Interessen geleitet, und sie helfen wenig bei der Suche nach den tatsächlichen Motiven. Horst Köhler allerdings wird daran nichts mehr ändern können. Denn auch wenn er sich am Dienstag mit einer Rede von seinen Mitarbeitern im Bundespräsidialamt verabschiedet, wird er der einen offiziellen Begründung, die er am Tag seines Rücktritts gegeben hat, wohl kaum eine weitere hinzufügen. Aber vielleicht bricht sich zwischen den vielen Gerüchten ja doch irgendwann die Wahrheit eine Bahn, tagesspiegel.de bleibt dran.

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