Kultur und Nationalstaat: Multikulti ist kein Kitsch
Der transnationale Zusammenfluss von Kulturen kann nicht durch „Obergrenzen“ gesteuert werden. Ein Essay.
Nach wie vor ist rätselhaft, was Angela Merkel im Hinblick auf das Flüchtlingsproblem eigentlich „schaffen“ will oder wollte. Was versteht sie unter Integration? Geht es ihr um ein politisches Bekenntnis zur protestantischen Ethik einer neuen „Leitkultur“ oder nur um ein gigantisches Arbeitsplatzbeschaffungsprogramm, wie die Zusammenlegung von Arbeitsagentur und Asylbehörde nahelegt. Die Kanzlerin weiß, dass die meisten Deutschen und ihre raunenden Intellektuellen eine kulturelle „Überfremdung“ noch mehr fürchten als die drohende Jobkonkurrenz. Deshalb hat sie ihren Fernsehauftritt im Oktober bei Anne Will auch dazu genutzt, mit der Wiederholung einer alten Parole ein scheinbar deutliches Signal zu setzen: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert.“
Sich heute abwertend über multikulturelle Tendenzen in der Gesellschaft zu äußern, ist allerdings nicht mehr sehr originell. Im deutschen Parlament und in den Medien wurde darüber schon vor 15 Jahren heftig gestritten. Damals brachte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz, die „deutsche Leitkultur“ als kämpferischen Gegenbegriff ins Spiel und warnte vor der Entstehung von Parallelgesellschaften. Eine solche Radikalisierung der Diskussion erschien selbst vielen seiner Parteigenossen unheimlich. Und Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, beklagte auf einer öffentlichen Veranstaltung die Ausländerfeindlichkeit, die sich in dem „Gerede um die Leitkultur“ offenbare. Für ihn wurden trübe Erinnerungen an eine dunkle Epoche deutscher Geschichte wach, Erinnerungen an nationalistisch-romantische Sinnstiftungen von Kriegen und mörderischem Rassismus im Namen der deutschen Kultur und ihres Sonderwegs.
Aberwitziger Bürokratenplan einer vertraglichen „Integrationsverpflichtung“
Nun musste auch die frisch als CDU-Vorsitzende gekürte Angela Merkel eingreifen, um ihre Partei aus der Schusslinie zu bringen. Nicht Friedrich Merz habe die „Leitkultur“ erfunden, erklärte sie, sondern „der in Deutschland lebende syrische Orientalist“ Bassam Tibi. Doch der war ein schlechter Gewährsmann, denn ihm ging es nicht um „deutsche“, sondern um eine „europäische Leitkultur“, eher um eine „kulturelle Moderne“ im Sinne von Jürgen Habermas. Schnell ließen die Christdemokraten ihn als „Berater“ wieder fallen. Als Bundeskanzlerin entsorgte Merkel später auch Merz, nicht aber dessen Idee einer „deutschen Leitkultur“. Der Begriff wurde zentraler Bestandteil der Grundsatzprogramme von CDU und CSU.
Wie groß die Sucht nach Identifikation mit einer solchen „Leitkultur“ in der deutschen Gesellschaft war und ist, belegt der Erfolg von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Es wurde noch im Erscheinungsjahr 2010 mehr als eine Million Mal verkauft. In seinem Pamphlet prangert der frühere sozialdemokratische Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand in rassistischer Manier die angeblichen genetischen Defekte und Defizite der islamischen Einwanderer an. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme haben jetzt auch SPD-Politiker wie der Berliner Fraktionsvorsitzende Raed Saleh oder Cem Özdemir von den Grünen den alten Merz-Begriff scheinbar neu für sich entdeckt, und die Zeitschrift „Cicero“ forderte zu einer kritischen Diskussion über den „Verfassungspatriotismus“ auf, doch Frau Merkel und andere Regierungsvertreter schweigen dazu. Stattdessen verkünden sie den aberwitzigen Bürokratenplan einer vertraglichen „Integrationsverpflichtung“. Das heißt, Migranten sollen sich mit ihrer Unterschrift zum deutschen „Grundwertekatalog“ bekennen. Bei „Verstößen“ wären Kürzungen der finanziellen Zuwendungen fällig. Aber wer soll denn welche „Verstöße“ kontrollieren? Die Ordnungsämter ?
Zu wenig diskutieren Politiker und Repräsentanten der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche uneigennützig und gemeinsam die Frage: Sind wir fähig, einen transnationalen kulturellen Raum mit einer kollektiven Dimension des politisch-sozialen Handelns zu verbinden? Diskussionswürdig wäre zum Beispiel der Vorstoß des Geschäftsführers des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Markus Kerber, der die Einrichtung eines „Ministeriums der Integration und Globalisierung“ forderte. Die Probleme der Zuwanderungswelle, so Kerber in der „Zeit“, könnten nicht nur durch humanitäre Erstversorgung in Turnhallen und Containerdörfern provisorisch „verwaltet“ werden, sondern erforderten langfristig eine soziale und kulturelle „Anpassung“ Deutschlands an eine „neue Wirklichkeit“. Das Problem der Migration kann nicht nur unter dem eingeschränkten Aspekt von gesellschaftlichen und kulturellen Belastbarkeitsgrenzen der (westlichen) Aufnahmeländer begriffen werden. Die neue transnationale Perspektive erweitert den Blick auf gegenseitige Abhängigkeiten, soziale Eingliederungen und kulturelle Identitäten jenseits des traditionellen Nationalstaates.
„Transnationalismus“ entwickelte sich als positiv besetzter Gegenbegriff zur negativen „Globalisierung“
Das Phänomen, dass sich Menschen politisch und kulturell mit mehr als einem Land identifizieren, ist gar nicht so neu. Der Begriff des „Transnationalen“ wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der damaligen Immigrationswelle in den USA von dem Publizisten Randolph Bourne geprägt. Vor 100 Jahren, als Fahnenträger der deutschen Lei(d)kultur wie Thomas Mann die Versenkung der „Lusitania“ bejubelten, entwarf Bourne in seinem Essay „Transnational America“ das Programm eines pluralistischen Amerika, das kulturelle und ethnische Differenzen nicht als Hindernisse, sondern als Zukunftschance begreifen müsse. In einem „transnationalen“ Gesellschaftsgefüge sollten religiöse und kulturelle Mehrfachloyalitäten systematisch gefördert werden.
Im 21. Jahrhundert, vor dem Hintergrund neuer internationaler Kommunikationstechnologien und ökonomischer Strukturen, entwickelte sich „Transnationalismus“ zunehmend als positiv besetzter Gegenbegriff zur negativen „Globalisierung“. Historisch lehrreich sind in diesem Zusammenhang aber vor allem auch die tragischen jüdischen „Diaspora“-Erfahrungen. Im traditionellen Judentum waren „Galut“, „Exil“ und „Diaspora“ mehrschichtige Begriffe, die zunächst einen historischen Zustand benannten, der als Strafe für religiöse Sünden über das Volk gekommen war. Später wurden „Exil“ und „Diaspora“ auch als geopolitisches Konzept verstanden, welches ein Leben außerhalb Israels in einem nicht jüdischen Land beschreibt. Und „Negation des Exils“ erschien als Höhepunkt jüdischer Geschichte und als Verwirklichung traditioneller Erlösungserwartungen. Die Spannung zwischen katastrophaler Vergangenheit und möglicher kosmopolitischer Zukunft schafft heute neue Bedingungen für ein Diasporabewusstsein, das weniger auf territorialer Unabhängigkeit beruht, sondern auf Identität, die sich aus Erinnerung und Zerstreuung zusammensetzt.
Vor diesem Hintergrund gewannen schon die Umwälzungen in Osteuropa und die jüdischen Migrationsströme aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion eine besondere Bedeutung für die laizistische Diskussion einer „transnationalen Diaspora“. Entsprechend ihrem transnational geprägten Bewusstseinsstand bekannte sich (nach einer Statistik des Bundesverwaltungsamtes von 2009) die überwiegende Mehrheit der 211 734 registrierten jüdischen Flüchtlinge aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) – dem Zusammenschluss verschiedener Nachfolgestaaten der Sowjetunion – zwar zur „jüdischen“ Identität (im Sinne der Abstammung) und zur „russischen“ Kultur, wollte aber zukünftig nicht „zum deutschen Volk“ gehören. Nur knapp zehn Prozent der Einwanderer votierten für eine alleinige deutsche Staatsbürgerschaft, während 32 Prozent (!) eine „europäische“ für erstrebenswert erachteten. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer, der ebenfalls als russisch-jüdischer „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland gekommen war, hat dieses Migrationsbewusstsein in die ironische Formel gekleidet: „Auf einen deutschen Pass zu warten, kann schlimm sein, ihn zu bekommen, ist noch schlimmer.“ Ernsthafter erscheint der leidenschaftliche Appell des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, „für das europäische Projekt der Einigung“. Für ihn können die ursächlichen Probleme von Krieg, Terror und Flüchtlingselend nicht ohne ein starkes und geeintes Europa gelöst werden.
„Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut“
Der transnationale Zusammenfluss von Kulturen ist kein Prozess der durch „Obergrenzen“ oder „Kontingente“ der Migrationsströme gesteuert werden kann. Auch schon die deutsche Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts beherbergt Beispiele der kulturellen Mobilität. Die politische und territoriale Zersplitterung der deutschsprachigen Länder hatte fast einhundert Jahre vor der Reichsgründung von 1871 bereits zu Versuchen geführt, Deutschland als Kulturnation zu erfinden. So formulierte Johann Gottfried Herder in seiner Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ die These, dass „die Mächte der Geschichte“ wie Nationen und Epochen jeweils ihren eigenen Wert in sich tragen und unabhängig vom Betrachter zu beurteilen seien.
Vor allem die Vielfalt der Sprachen galt ihm als ein Fundament wandelbarer, aber immer einzigartiger nationaler Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart der Völker. Herder war davon überzeugt, dass die unüberwindliche Pluralität und Koexistenz von Sprachen und Kulturen, Völkern und ihrem „Volksgeist“ anders als bei Hegel nie zu einem homogenen „Weltgeist“ synthetisiert werden könnten. Wenn man will, war Herder schon programmatischer Pate eines transnational verstandenen Multikulturalismus. Auf die Frage, was denn eine Nation sei, antwortete er: „Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidungen annehmen und gegen andre Nationen den Speer brechen?“ Offenbar sei es „die Anlage der Natur“, dass Menschen, Geschlechter und Völker „von und mit dem anderen lernen … bis alle endlich die schwere Lektion gefasst haben: kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde – die Wahrheit müsse von allen gesucht werden“.
So leicht lässt sich „Multikulti“ wohl doch nicht in die Kitschecke drängen. Auch der „Welt“-Korrespondent Alan Posener hat jüngst versucht, das verachtete Phänomen zu rehabilitieren. Seine Begründung ist durchaus nachvollziehbar: Der Multikulturalismus habe nicht nur Deutschland verändert, sondern könne auch den Zuwanderern einen neuen Horizont verschaffen. Denn der Islam habe „keinen Begriff des Multikulturalismus“. Mit dem Austausch zwischen den Kulturen und dem Respekt vor dem Fremden könne die westliche Gesellschaft mit ihrer Globalisierungserfahrung besser umgehen als die muslimische. Nicht wir seien durch den Multikulturalismus bedroht, sondern „die antimodernen, intoleranten Aspekte des Islams“.
Und im Frühjahr 2008 hat Uwe Eric Laufenberg am Potsdamer Hans-Otto-Theater versucht, in einer „Welturaufführung“ Salman Rushdies „Satanische Verse“ thematisch mit Goethes „Faust“ zusammenzubringen. Er wollte daran erinnern, dass es auch aufklärerische Traditionen des Islam gibt. Für die Wächter und Förderer einer nationalen Hochkultur ist eine solche Symbolik aber nach wie vor zu drastisch.
Der Autor ist Kulturwissenschaftler und Publizist und lebt in Berlin.