zum Hauptinhalt
Der Handschlag der Präsidenten: Wladimir Putin und Joe Biden in Genf.
© Alexander Zemlianichenko / POOL / AFP

Das Biden-Putin-Treffen und die Folgen: Moskau braucht Zuckerbrot und Peitsche

Nach dem Biden-Putin-Gipfel muss die EU ihre Russland-Politik neu ausrichten. Russland braucht einen unterstützten wirtschaftlichen Aufholprozess. Die Analyse.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Jörg Rocholl PhD, Präsident der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Volker Perthes, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Die internationale wirtschaftspolitische Diskussion der letzten Zeit hat sich vor allem auf den Zweikampf China versus USA und die europäische Rolle in dem Konflikt konzentriert. Jede Nachricht, chinesische Unternehmen dürften nicht mehr ohne Weiteres in den USA agieren und amerikanische Investoren nicht mehr in China, ist ein Seismograf für die zunehmend angespannten Beziehungen und wechselseitigen Abschottungstendenzen.

Das Treffen zwischen US-Präsident Joe Biden und Russlands Staatsoberhaupt Wladimir Putin an diesem Mittwoch in Genf erinnert uns daran, dass es noch weitere Spieler auf der Weltbühne gibt – und Spannungen nicht nur im Verhältnis zwischen China und den USA existieren. Der Genfer Gipfel fällt in eine Zeit, in der das Verhältnis beider Länder so schlecht ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Uneinigkeit und Streit gibt es bei fast allen wesentlichen Themen, etwa den militärischen Konflikten in der Ukraine und in Syrien, der Entwicklung in Belarus oder der mutmaßlichen russischen Einmischung in westliche Wahlkämpfe. Zunehmend wirken sich diese politischen Konflikte auch auf die europäische Wirtschaft aus.

Im Lichte der schon vor Jahren gegenseitig verhängten Sanktionen zwischen dem Westen und Russland kündigte Moskau jüngst an, sich weiter vom Westen abschotten zu wollen. Putin gab bekannt, russische Unternehmen dürften bis zum Jahr 2024 ausschließlich russische Software und bis 2025 auch nur noch eigene Hardware einsetzen. Außenminister Sergei Lawrow will Russland vom internationalen Zahlungsverkehrssystem Swift abkoppeln und den Dollar im Außenhandel durch andere Währungen ersetzen.

Ist das Geschehen eine epochale Wende?

Erste Konsequenzen sind bereits sichtbar: Russische Manager und Banken fragen sich verzweifelt, woher sie denn auf die Schnelle eigene Software und Hardware bekommen sollen. Ausländische Investoren ziehen sich aus Russland zurück, europäische Beobachter warnen vor wachsenden geopolitischen Risiken bei Investitionen in Russland. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen: Moskaus ökonomischer Alleingang wird zwar nicht funktionieren, aber auf beiden Seiten Verlierer produzieren – und so schnell nicht wieder zu reparieren sein.

Als gäbe es nicht schon Spannungen genug, kommen die Sanktionen und Drohungen Washingtons gegen die Beteiligten beim Weiterbau der fast fertigen Pipeline Nord Stream 2 hinzu. Auch wenn Biden sich hier zuletzt zumindest für die kommenden drei Monate konzilianter gegenüber Deutschland gezeigt hat, steht nach wie vor die Gefahr im Raum, dass die USA Sanktionen auch gegen Verbündete verhängen.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: "Berufspolitiker" trifft "Killer" – Biden und Putin, die Geschichte einer Feindschaft]

Markieren diese vielfältigen Sanktionen und Abschottungstendenzen eine epochale Wende? Fest steht: Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben wir eine dynamische Entwicklung erlebt, die mit einer zunehmenden globalen wirtschaftlichen Integration einherging. Diese Entwicklung trug wesentlich dazu bei, dass Hunderte Millionen Menschen der Armut entkommen konnten – und zwar nicht nur in China mit seiner beispiellosen wirtschaftlichen Aufholjagd.

Wird dieser Fortschritt nun verspielt? Nicht zwangsläufig, aber das Auf und Ab vergangener Zeiten zeigt die Gefahr: Für das 20. Jahrhundert etwa stellten die Ökonomen Raghu Rajan und Luigi Zingales fest, dass die globalen finanziellen Verflechtungen vor dem Ersten Weltkrieg stärker ausgeprägt waren als 1980. Verantwortlich für die Entflechtung waren rückläufige Handelsvolumina und geringere internationale Finanzströme, die das Zeitalter zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1980er Jahren prägten. Das Vorkriegsniveau wurde erst um die Jahrtausendwende wieder erreicht und anschließend überschritten.

Es braucht ein regelgebundenes und international abgestimmtes Wettbewerbssystem

Wie kann verhindert werden, dass sich diese Entwicklung im 21. Jahrhundert wiederholt, wir also angesichts der vielfältigen Sanktionen und Abschottungstendenzen erst nach vielen Jahrzehnten wieder den Stand heutiger ökonomische Integration erreichen? Die Antwort liegt auf der Hand: Durch ein regelgebundenes und international abgestimmtes Wettbewerbssystem, das nationalen Alleingängen zuwiderläuft. Das Ende der „Ära“ Trump eröffnet hier neue Chancen. Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten sowie zwischen der Europäischen Union und den USA sind dafür die Grundvoraussetzung. Ein solches Regelwerk sollte klare Grenzen setzen, vor allem mit Blick auf massive staatliche Unterstützung von Industrien und Unternehmen in anderen Ländern.

Allerdings: Auch ein System multilateraler Regeln ist kein Allheilmittel, gerade im Umgang mit autokratischen Systemen. Deshalb müssen die Regeln flankiert werden durch ein intelligentes System von Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits sollten Sanktionen und andere Strafmaßnahmen nach wie vor Werkzeuge im Instrumentenkasten sein. Sie bleiben wichtig und gerechtfertigt in spezifischen Fällen, etwa bei der von der politischen Führung in Minsk veranlassten Flugzeugentführung. Sie müssen aber gezielt und nicht nach dem Gießkannenprinzip eingesetzt werden.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: G-7-Gipfel in Genf: Taubenschlag des Friedens]

Andererseits sollte Ländern die Perspektive aufgezeigt werden, dass regelkonformes Verhalten zu einer deutlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage beitragen kann. Die Ankündigung der EU, ein Hilfspaket über mehrere Milliarden Euro für Belarus zu schnüren, wenn das Land einen demokratischen Kurs einschlagen sollte, geht in die richtige Richtung.

Der Westen sollte Russland Angebote unterbreiten

Was für Minsk gilt, gilt ähnlich auch für Moskau. Die russische Wirtschaft ist in hohem Maße von Rohstoffexporten abhängig, gerade bei Öl und Gas. Sie machen mehr als die Hälfte der gesamten russischen Exporte aus. Diese rückständige ökonomische Prägung bedingt eine hohe Abhängigkeit nicht nur bei den Rohstoffpreisen, sondern auch von den Abnehmerländern. Diese eher für Entwicklungsländer charakteristische Abhängigkeit spiegelt sich in einer geringen Kaufkraft der Bevölkerung wider, einer schwach ausgeprägten Neigung zu unternehmerischen Neugründungen und der überalterten Infrastruktur. Das ist die Achillesferse auch des politischen Systems.

[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]

Derzeit besteht sogar die Gefahr, dass der staatliche Einfluss wieder zunimmt. Umso wichtiger ist es aus westlicher Sicht, der russischen Seite Angebote zur Entwicklung und Modernisierung zu unterbreiten und damit – klare Bedingungen wie Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit vorausgesetzt – eine partnerschaftliche Perspektive zur wirtschaftlichen Genesung zu geben. Erforderlich ist letztlich ein wirtschaftlicher Aufholprozess Russlands mit starker westlicher Unterstützung.

Die Tendenz zur nationalen Abschottung und mangelhaften Suche nach internationalen Lösungen hat weite Teile des 20. Jahrhunderts geprägt, mit all den verheerenden wirtschaftlichen Folgen des Protektionismus. Nationale Alleingänge sind weder im Interesse des Alleingängers noch der anderen Staaten. Jetzt müssen die entscheidenden Weichen gestellt werden, damit die Staatengemeinschaft diese zentrale Aufgabe im 21. Jahrhundert besser löst.

Jörg Rocholl

Zur Startseite