Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer: Möglicherweise mehr als 900 Tote, EU-Krisengipfel geplant
An Bord des im Mittelmeer gekenterten Kutters könnten bis zu 950 Flüchtlinge gewesen sein. Erst 28 wurden bisher gerettet. Viele Menschen waren offenbar im Laderaum eingeschlossen. EU-Ratspräsident Donald Tusk plant einen Krisengipfel.
Die Zahl der Opfer bei dem erneuten Schiffsunglück im Mittelmeer könnte noch erheblich höher sein als bisher vermutet. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa spricht von bis zu 950 Personen an Bord des vor Libyen gekenterten Kutters. Ursprünglich war von 700 Flüchtlingen die Rede gewesen.
"Wir waren 950 Menschen an Bord, auch 40 bis 50 Kinder und etwa 200 Frauen", sagte ein aus Bangladesch stammender Überlebender laut Ansa der Staatsanwaltschaft. Viele Menschen seien im Laderaum eingeschlossen gewesen. "Die Schmuggler haben die Türen geschlossen und verhindert, dass sie herauskommen", erzählte der Mann, der in ein Krankenhaus gebracht worden war.
Italiens Küstenwache und Marine suchte den ganzen Tag über mit Booten und Hubschraubern am Unglücksort vor der libyschen Küste nach Überlebenden. Helfer erklärten jedoch am Abend im sizilianischen Catania, die Suche nach Überlebenden sei praktisch den ganzen Tag ergebnislos geblieben: "Seit zehn Uhr morgens finden wir an der Unglücksstelle nur noch Reste von Treibstoff und Abfälle." Damit bleibt es bei den Zahlen, die Ministerpräsident Matteo Renzi am frühen Abend genannt hatte: Gerettet wurden 28 Überlebende, geborgen 24 Tote.
Nach Ansa-Recherchen kam das Schiff ursprünglich aus Ägypten und hatte die Flüchtlinge erst an der libyschen Küste aufgenommen. Die Unglücksstelle lag etwa 70 Meilen nördlich der libyschen Küste, 112 Meilen südlich von Malta und 130 Meilen südlich der italienischen Insel Lampedusa.
Ersten Erkenntnissen zufolge hatten die Migranten einen Hilferuf abgesetzt, woraufhin ein portugiesischer Frachter sich auf den Weg machte. Als sich dieser näherte, eilten viele Migranten zu einer Seite des Schiffes, um die Retter zu erreichen. Daraufhin kenterte das etwa 30 Meter lange Boot den Berichten zufolge. Über die Herkunft der Menschen an Bord war zunächst nichts bekannt.
"Wahrscheinlich ist der Frachter in die Nähe des Bootes gefahren. Die Bewegung einiger Flüchtlinge hat das Boot dann zum Kentern gebracht", sagte Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, dem TV-Sender Rai. "Wenn sich die Bilanz dieser erneuten Tragödie bestätigen sollte, sind in den vergangenen zehn Tagen mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen." Immer wieder machen sich Migranten von Afrika aus auf den Weg über das Mittelmeer, viele von ihnen überleben die gefährliche Überfahrt nicht.
Die Flüchtlingsfrage wird infolge der Katastrophe im Mittelmeer am Montagnachmittag auch Thema bei einem Treffen der EU-Außen- und Innenminister in Luxemburg sein. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini setzte das Thema kurzfristig auf die Tagesordnung. Der italienische Regierungschef Matteo Renzi hat sogar einen Krisengipfel der Europäischen Union gefordert. "Wir arbeiten daran, dass dieses Treffen zum Ende der Woche hin stattfinden kann", sagte Renzi am Sonntag vor Journalisten. "Das muss Priorität haben." Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk schloss sich diesem Wunsch an, wie ein Sprecher am Abend in Brüssel mitteilte.
Berlusconi: Kritik an Regierung Renzi einstellen
Italiens früherer Ministerpräsident Silvio Berlusconi rief am Sonntagabend seine Gefolgsleute dazu auf, ihre den ganzen Tag über mit wachsender Intensität geäußerte Kritik an der "linken" Regierung Renzi einzustellen: "Dies ist der Moment der Einheit, nicht der Spaltung", erklärte Berlusconi, der seinerseits die Regierung aufforderte, einen "Runden Tisch" zum Thema Flüchtlinge einzurichten und dort auch die "Erfahrung früherer Regierungen" zu nutzen – also auch seiner eigenen.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich schockiert und tief betrübt über die jüngste Flüchtlingskatastrophe. In einer Mitteilung der Vereinten Nationen beklagte Ban, das Mittelmeer habe sich zur „tödlichsten Route“ für Asylsuchende und Flüchtlinge weltweit entwickelt. Die internationale Antwort auf dieses Problem müsse umfassend und gemeinschaftlich sein. Die Aufgabe liege nicht nur in einer verbesserten Seerettung. Es müsse auch das Recht auf Asyl für die wachsende Zahl von Menschen garantiert werden, die vor Krieg flüchteten und sichere Zufluchtsstätten suchten. Ban dankte der italienischen Regierung für ihre Anstrengungen und rief die internationale Gemeinschaft zur Solidarität und zum Mittragen der Lasten angesichts der Krise auf.
Papst Franziskus forderte am Sonntag eine "schnelle und entschiedene" Reaktion der internationalen Gemeinschaft, damit sich solche Tragödien nicht wiederholten. Die Opfer seien "Männer und Frauen wie wir, unsere Brüder", sagte Franziskus beim Mittagsgebet auf dem Petersplatz. Sie seien Hungrige, Verfolgte, Verletzte, Ausgebeutete und Kriegsopfer, die ein besseres Leben und Glück suchten. Der Papst rief die mehreren Zehntausend Menschen auf dem Petersplatz zum stillen Gebet auf. "Ich appelliere sorgenvoll, dass die internationale Gemeinschaft mit Entschlossenheit und Schnelligkeit handelt, um zu verhindern, dass sich ähnliche Tragödien wiederholen".
Erst am Samstag hatte der Papst eine ausgewogenere Verteilung von Flüchtlingen in der EU angemahnt. Italien nehme zahlreiche Flüchtlinge auf; nötig sei jedoch eine "sehr viel stärkere Beteiligung" seitens anderer Staaten, sagte er bei einem Treffen mit dem italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin": "Ich glaube, es sind zwei Dinge, die wir tun müssen. Das Erste: Wir müssen versuchen, mehr Stabilität nach Libyen zu bringen. Das heißt, zu versuchen, doch noch eine Regierung der nationalen Einheit zustande zu kriegen in Libyen. Nur stabile Verhältnisse dort werden auch verhindern, dass Libyen weiterhin von den Schleppern und Schlepperorganisationen benutzt wird. Und wir müssen den Schlepperorganisationen das Handwerk legen. Das wird nur gehen in internationaler Kooperation."
Regierungspolitiker wollen Kampf gegen Schleuser forcieren
Ähnlich äußerte sich Steinmeiers Parteifreund Sigmar Gabriel: "Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Europa an seinen Außengrenzen nicht Menschlichkeit, sondern allzu oft den Tod bringt", sagte der SPD-Vorsitzende. "Alle europäischen Polizei- und Grenzbehörden müssen mit aller verfügbaren Kraft den Kampf gegen kriminelle Schleuserbanden aufnehmen, die mit dem Elend von Menschen Geschäfte machen. Wir brauchen einen internationalen Einsatz gegen Schlepperbanden. Und wir müssen den Ländern - zur Zeit vor allem Libyen - helfen, stabile Strukturen aufzubauen und mit dem Flüchtlingsstrom fertig zu werden."
Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach von einer "andauernden Tragödie", vor der man in Deutschland und er EU nicht die Augen verschließen dürfe. "Jeder Tote ist einer zu viel." Ein zentraler Punkt sei die Bekämpfung von Schlepperbanden. "Wir dürfen und werden es nicht dulden, dass diese Verbrecher aus bloßer Profitgier massenhaft Menschenleben opfern." Gleichzeitig benötige man eine bessere Verzahnung der Außen-, Innen und Entwicklungspolitik zwischen den Mitgliedsstaaten sowie den Herkunfts- und Transitstaaten. Seitens der EU-Kommission sei "in der Vergangenheit zu wenig passiert", sagte der Minister. Er begrüße es, dass die Kommission im Mai eine neue Flüchtlingsstrategie vorlegen wolle.
Opposition fordert Ausbau der Seenotrettung
Auch zahlreiche andere Politiker forderten eine schnelle Reaktion. Deutschland müsse sich "für eine Neuauflage des Seenotrettungsprogramms Mare Nostrum einsetzen", sagte die Vorsitzende der Grünenfraktion im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, dem Tagesspiegel. "Wir haben eine humanitäre Verpflichtung zu helfen." Die Europäische Union müsse sichere Wege für die Flüchtlinge schaffen. und könne diese nicht weiterhin wie bisher "zynisch ihrem Schicksal" überlassen.
Die EU müsse "die Seenotrettungsoperation unverzüglich und in größerem Umfang als früher wieder aufnehmen", verlangte auch der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi. Dass man dieses Programm eingestellt habe, sei "katastrophal und absolut inhuman", sagte er dem Tagesspiegel. Die Politik müsse "endlich lernen, nicht Flüchtlinge, sondern Fluchtursachen zu bekämpfen".
"Die EU-Kommission und die EU-Staaten müssen nach dieser neuen Tragödie im Mittelmeer jetzt handeln", schrieb der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), auf Twitter. Grünen-Chefin Simone Peter bezeichnete das Unglück als "eine Katastrophe mit Ansage". "Erneut Hunderte Tote im Mittelmeer sind eine Schande für Europa und uns alle", erklärte sie.
Das Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum war eine Reaktion auf das große Flüchtlingsunglück bei Lampedusa im Oktober 2013, bei dem knapp 400 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea ertranken. Laut der NGO European Council on Refugees and Exile wurden dadurch rund 140 000 Menschen gerettet. Das Programm der italienischen Marine und Küstenwache war allerdings befristet und endete am 31.Oktober 2014.
Es jetzt einfach bloß wiederzubeleben, wäre "auch keine Garantie, dass sich derartige Katastrophen nicht wiederholen", sagte der Innenexperte der Unionsfraktion, Stephan Mayer, dem Tagesspiegel. Nach dem neuerlichen Unglück dürfe die EU zwar "nicht zur Tagesordnung übergehen". Allerdings gebe es auch "kein Patentrezept". Generell gelte, dass man die Fluchtursachen vor Ort bekämpfen und auch verstärkt mit den betroffenen Ländern sprechen müsse, "damit sich von dort nicht immer mehr hochseeuntaugliche Schiffe mit Flüchtlingen auf den Weg machen".
Aydan Özoguz (SPD), Migrations-Beauftragte der Bundesregierung, zeigte sich auf ihrer Facebook-Seite "zutiefst erschüttert" über das neue Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer. "Dass wieder so viele Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren haben, ist ein Armutszeugnis für uns alle. Wir dürfen deshalb keine Zeit mehr verlieren." Es sei zu befürchten, dass mit den wärmeren Temperaturen in den kommenden Wochen und Monaten noch mehr Schutzsuchende über das Meer kommen werden. "Deshalb müssen wir endlich die Seenotrettung wieder auflegen. Es war eine Illusion zu glauben, dass die Einstellung von Mare Nostrum Verzweifelte davon abhalten wird, die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wagen." Die Menschen würden nicht fliehen, weil sie kalkulierten, rechtzeitig gerettet zu werden. "Sie fliehen, weil sie in ihrer Heimat Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder haben. Wenn wir nichts unternehmen, wird das Mittelmeer noch für viel mehr Flüchtlinge zum Massengrab."
Größte Flüchtlingskatastrophe in der neueren Geschichte des Mittelmeers
Es handle sich um die „größte Flüchtlings-Schiffskatastrophe in der neueren Geschichte des Mittelmeers“, sagte der Sprecher des transnationalen Helfernetzwerks „Watch the med“, Helmut Dietrich, dem Tagesspiegel. Mit ihrem Beschluss vom 27. August 2014, die Seenotrettung im Mittelmeer herunterzufahren, sei die EU verantwortlich für dieses Massensterben. Sie habe die Möglichkeit, Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten, lasse sie aber ertrinken. Die Passage zwischen der libyschen Küste und Sizilien sei eine der bestüberwachtesten Meereszonen der Welt, „wenn man wollte, wäre hier jede Nussschale aufspürbar“. Die Küstenwachen Italiens und Maltas verfügten jedoch nicht über die notwendige Ausrüstung, um das Sterben im Mittelmeer zu verhindern.
Derzeit stehe seine Organisation gleichzeitig mit zehn weiteren Flüchtlingsbooten in Kontakt, sagte Dietrich. Das seien „so viele wie noch nie“. In den vergangenen drei Jahren sei der Flüchtlingsdruck derart angestiegen, dass es die „Pflicht Europas und der Welt“ wäre, sichere Schiffspassagen für Flüchtlinge zu organisieren. „Wir fordern eine sofort einzurichtende direkte Fährverbindung für Flüchtlinge aus Tripolis und anderen Orten Nordafrikas nach Europa.“
Denkbar sei der Aufbau solch sicherer Flüchtlingspassagen nur, wenn es Möglichkeiten gäbe, die Asylanträge schon in den Herkunftsländern zu prüfen, sagte der Innenexperte und stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Thomas Strobl, dem Tagesspiegel. Tatsächlich habe man keine Lösung, müsse aber alles dafür tun, eine solche zu finden. Es sei „mehr als dringlich, dass die EU endlich Wege findet, um die Menschen davon abzuhalten, ihr Leben zu riskieren“, sagte der CDU-Politiker. Daran müssten sich alle europäischen Länder beteiligen. Es gehe auch darum, die Lasten gerecht zu verteilen. Und nicht zuletzt seien „die Schlepperbanden zu bekämpfen, die die wahren Verbrecher sind“. Es sei „empörend mitanzusehen, wie mit dem Menschenhandel auf Kosten der Ärmsten auf diesem Globus skrupellos Milliardengeschäfte gemacht werden“.
(mit dpa/KNA/AFP)