Ungleiche Lebensverhältnisse: Mit Ost-West Einkommensscheren wird Stimmung gemacht
Ja, im Westen wird teils viel und im Osten wenig verdient. Doch es geht um vergleichbare, nicht um gleiche Verhältnisse. Eine Kolumne.
Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe.“ Mit diesem Satz wird der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill zitiert. Die süffisante Floskel dient als Beleg, dass man Zahlen generell nicht trauen dürfe. Tatsächlich hat Churchill diesen Satz nie gesagt. Die Quelle liegt in Deutschland – in Anweisungen des Reichspropagandaministeriums an die Presse. Joseph Goebbels wollte den gefürchteten Churchill damit lächerlich und unglaubwürdig machen.
Tatsächlich muss man Statistiken in Zusammenhängen lesen. Erst dann werden sie aufschlussreich. Das jüngste Beispiel entnehmen wir einer Antwort der Bundesanstalt für Arbeit auf eine Frage der Bundestagsfraktion Die Linke. Es ging dabei um Gehälter im Osten und Westen Deutschlands. Wenig überraschend zeigen die Zahlen der BA, dass die jährlichen Durchschnittseinkommen bei Vollzeitbeschäftigung zwischen der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung deutlich auseinanderklaffen.
Das höchste monatliche Durchschnittseinkommen wird im bayerischen Ingolstadt gezahlt. Es beträgt 4635 Euro. Das niedrigste Monatseinkommen erhalten Vollzeitbeschäftigte im sächsischen Görlitz. Da liegt es bei 2183 Euro, also weniger als der Hälfte dessen, was in Bayern gezahlt wird.
An der Aktienverteilung ist weder Kohl, Schröder noch Merkel schuld
Auch im Vergleich der Bundesländer liegen die mit den höchsten Einkommen im Westen und die mit den niedrigsten im Osten. Ganz oben steht Hamburg (3619 Euro), gefolgt von Baden-Württemberg (3546) und Hessen (3494). Schlusslicht ist Mecklenburg-Vorpommern mit einem Durchschnittseinkommen pro Monat von 2391 Euro. Knapp davor liegen Thüringen (2459 Euro) und Sachsen (2479 Euro). Zum Vergleich auch noch dies: Im gesamtdeutschen Durchschnitt bringen Vollzeitbeschäftigte 3209 Euro heim. Die im Osten haben 2600 Euro, die im Westen 3339 Euro. Dazwischen finden wir Berlin, mit 3126 Euro.
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Was sagen die Zahlen? Sabine Zimmermann, die Arbeitsmarktexpertin der Linken, nennt sie „beschämend“. Sahra Wagenknecht, die Vorsitzende der Linksfraktion, nimmt noch eine Statistik über die Verteilung des Aktienvermögens mit dazu und wettert dann: „Die regionale und tiefe Spaltung beim Wertpapiervermögen zeigt das eklatante Versagen der letzten Bundesregierungen bei der Schaffung gleicher Lebensverhältnisse und einer gerechten Verteilung des Reichtums.“
Wer jedoch hinter die nackten Zahlen blickt, erkennt Zusammenhänge, für die keine Bundesregierung verantwortlich gemacht werden kann. In den reichsten Regionen der Bundesrepublik (Starnberg in Bayern und Hamburg-Harburg) leben, da gibt es nun mal einen Zusammenhang, mehr Aktienbesitzer als sonst irgendwo. Dass in der DDR 40 Jahre lang eine Partei regierte, die die Bildung von Privateigentum systematisch verhinderte, kann man weder Helmut Kohl noch Gerhard Schröder noch Angela Merkel anlasten.
Nur Einkommen. Aber was ist mit den Ausgaben?
Die weite Spreizung der Einkommen gab es auch schon in der alten westdeutschen Republik. Wo sich Industrie mit Zukunftsperspektiven ballt, wie in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg, steigen Einkommen und Wohlstand. In Ingolstadt sorgt Audi für hohe Gehälter, in Erlangen Siemens, in Hessen die Chemie und der Bankenplatz Frankfurt. Der Handel macht Hamburg reich. Niedersachsen und Schleswig-Holstein galten auch vor der Wiedervereinigung als Bundesländer, die sich mangels Industrie nur mühsam aus der Strukturschwäche herausarbeiten konnten. Ohne VW wäre Niedersachsen, sieht man einmal von der Region der Schweinebarone ab, bis heute ein Armenhaus.
Die Statistiken, um die es hier geht, haben einen Mangel: Sie beleuchten nur die Einkommens-, nicht aber die Ausgabenlage. In Görlitz macht die Miete nur einen Bruchteil von der in den bayerischen Ballungsräumen aus. Die Lebenshaltung an der Küste ist viel günstiger als im Süden und Südwesten. Auch da gibt es also Wohlstand. Ja, der Staat muss, nicht nur wegen Artikel 72 des Grundgesetzes, etwa durch Investitionen in die Infrastruktur, für vergleichbare Lebensverhältnisse sorgen. Aber das ist eine Generationenaufgabe. Staatliche Strukturförderung sollte diese Entwicklung beschleunigen. Gleichheit erzwingen kann sie jedoch nicht.