"Sozialstaat noch krisenfester machen": Mit längerem Arbeitslosengeld will die Koalition ein Abrutschen in Hartz IV verhindern
Knapp eine halbe Millionen Menschen könnten davon profitieren, dass länger Arbeitslosengeld gezahlt wird. Auch das Kurzarbeitergeld soll für einen Teil der Bezieher steigen.
Olaf Scholz benötigt nur eine Zahl, um die Vorzüge des deutschen Sozialstaats zu anzupreisen: In den USA hätten innerhalb weniger Wochen 20 Millionen Menschen wegen der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise ihren Job verloren, sagt der Finanzminister.
In Deutschland, so die Botschaft des SPD-Politikers, gibt es Instrumente wie die Kurzarbeit, die dafür sorgen, dass viele Arbeitnehmer trotz Auftragseinbrüchen und Produktions-Stillständen nicht arbeitslos werden.
Das Kurzarbeitergeld sei ein wichtiger Teil des Sozialstaats, sagt Scholz nach den Beratungen des Koalitionsausschusses. Und es werde mit den jüngsten Beschlüssen „noch krisenfester“ gemacht.
Mehr als 700.000 Betriebe sind in Kurzarbeit
Mehr als 700.000 Betriebe haben nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) bisher Kurzarbeit angemeldet, das ist etwa jedes dritte Unternehmen in Deutschland. Noch liegen keine offiziellen Daten vor, wie viele Arbeitnehmer davon betroffen sind.
Laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung könnten es vier Millionen Beschäftigte sein, die im Moment wegen der Krise ihre Arbeitszeit reduzieren mussten oder nicht mehr arbeiten. Zum Vergleich: In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 waren 1,5 Millionen Menschen betroffen.
Wenn Unternehmen Kurzarbeit anmelden, übernimmt die Bundesagentur für Arbeit einen Teil der Einkommenseinbußen. Bisher ersetzt die Bundesagentur bei kinderlosen Beschäftigten 60 Prozent des wegfallenden Nettoeinkommens, bei Beschäftigten mit Kindern sind es 67 Prozent. Einen Teil dieser Einkommensverluste will die Koalition nun abfedern.
In einigen Branchen gibt es zwar sogar Tarifverträge, die eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf fast 100 Prozent des Nettolohns vorsehen. Doch für viele Betroffene ist das nicht der Fall. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat deshalb in den vergangenen Wochen darauf gedrungen, das Kurzarbeitergeld zeitlich befristet auf 80 und 87 Prozent zu erhöhen.
Der Kompromiss der Koalition sieht nun eine gestaffelte Anhebung des Kurzarbeitergeldes vor. Davon sollen vor allem diejenigen profitieren, die in stärkerem Umfang von Kurzarbeit betroffen sind: Für Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit um mindestens die Hälfte reduziert wurde, soll das Kurzarbeitergeld ab dem vierten Monat des Bezugs auf 70 Prozent steigen (mit Kindern 77 Prozent), ab dem siebten Monat auf 80 Prozent (87 Prozent mit Kindern). Die Regelung ist bis Ende 2020 befristet.
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans bezifferte die Mehrausgaben für das Kurzarbeitergeld auf etwa eine Milliarde Euro. Wie stark die Krise und die massive Ausweitung der Kurzarbeit den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit belasten wird, ist noch nicht absehbar. In das Jahr ist die BA mit einer Rücklage von 25,8 Milliarden Euro gestartet.
Doch die Reserven könnten je nach wirtschaftlicher Entwicklung noch vor Ende der Krise aufgebraucht sein. Dann müsste der Bund aus Steuermitteln Geld zuschießen – oder der Arbeitslosenbeitrag müsste angehoben werden, was die Koalition in Krisenzeiten aber vermeiden will.
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Drei Monate länger Arbeitslosengeld
Zu Mehrausgaben in der Arbeitslosenversicherung führt auch eine andere Neuregelung, auf die sich SPD und Union verständigt haben: Zeitlich befristet soll die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängert werden.
Wenn zwischen dem 1. Mai und dem 31. Dezember 2020 der Anspruch endet, sollen Arbeitslose drei Monate länger Geld erhalten. Nach ersten Berechnungen der BA gibt es rund 458.000 Personen, die davon profitieren könnten. Insgesamt bezogen zuletzt etwa 884.000 Menschen Arbeitslosengeld.
Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass Menschen in Hartz IV abrutschen. Wegen der Corona-Krise stellen viele Unternehmen derzeit nicht ein. Wer gerade arbeitslos werde, habe derzeit kaum Chancen, wieder einen Job zu finden, sagt Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD).
Im Normalfall zahlt die Bundesagentur zwölf Monate lang Arbeitslosengeld, für über 50-Jährige können es bis maximal 24 Monate sei. Die Arbeitslosenversicherung ersetzt 60 Prozent des Nettoeinkommens (mit Kindern im Haushalt 67 Prozent). In der Regel ist das Arbeitslosengeld damit höher als Hartz IV-Leistungen.