Den Erziehern ausgeliefert: Missbrauch in der DDR: Ein Opfer berichtet
Eine Frau berichtet über sexuellen Missbrauch in einem DDR-Jugendwerkhof – sie ist möglicherweise eins von sehr vielen Opfern
Immer durchzuckt sie diese Angst, wenn der Erzieher in den Gruppenraum tritt, in barschem Ton ihren Namen ruft und den militärischen Befehl hinzufügt: „Raustreten“. Heidemarie ist 16 Jahre alt. Sie wird in eine der Arrestzellen geführt. Sie weiß, was kommen wird, aber sie hat keine Chance, sich dagegen zu wehren. Sie ist hier im Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau an der Elbe gelandet, weil sie immer wieder versucht hat, aus der Hölle ihres Kinderheimes im mecklenburgischen Waren an der Müritz auszubrechen. Nun ist sie an der Endstation des Erziehungssystems der DDR angelangt. Ohne ein Gerichtsverfahren, ohne ein Urteil, fremdbestimmt vom Willen der staatlichen „Jugendhilfe“.
Langsam und mit leiser Stimme spricht die heute 52-jährige Heidemarie Puls das Unvorstellbare aus. Aber es kommt ohne Stocken, ohne Unterlass aus ihr heraus, so als hätte sie es hunderte Male in ihrem Innern formuliert, ohne dass es sich jemals zuvor Bahn brechen konnte. „Der Erzieher hat gesagt, was ich machen soll. Ich habe es gemacht.“ Denn an diesem Ort ist sie eine Rechtlose, der Willkür der Erzieher ausgeliefert. Manchmal will Herr K. Geschlechtsverkehr. „Doch das war schwierig, weil er so dick war. Deshalb musste ich mich auf die Pritsche legen und er befahl mir, mich selbst zu befriedigen. Er hat dabei masturbiert und sein Sperma auf meinen Körper gespritzt.“ Danach wird Heidemarie in den Waschraum geschickt. Sie muss sich lange waschen. „Die Scheide hat Herr K. selbst ausgewaschen. Danach habe ich meistens ein paar Schläge mit dem Stock gekriegt, damit ich schreie und die anderen in der Gruppe annehmen, ich sei bestraft worden, weil ich gegen irgendeine Regel verstoßen hätte.“
Fünf unendliche Monate muss Heidemarie Mitte der 70er Jahre in Torgau ausharren. Zehn bis zwölf Mal, so erinnert sie sich, habe sie diesen Missbrauch über sich ergehen lassen müssen. Neben Herrn K. vergeht sich auch ein zweiter Erzieher an ihr. Da auch ein zweites Mädchen aus ihrer Gruppe mehrmals, auch nachts, herausgerufen wird, nimmt sie an, dass es ein ähnliches Schicksal erlitt. Gesprochen haben sie darüber nie. Aus Scham, aus Angst, und weil ihnen sowieso niemand geglaubt hätte.
Heidemarie Puls hat ihre Vergangenheit schon intensiv aufgearbeitet. Sie war 15 Jahre lang in therapeutischer Behandlung und hat ein Buch geschrieben über ihre traumatischen Erlebnisse in Torgau, diese brutale Umerziehungsanstalt für junge Menschen, die nicht ins Bild des sozialistischen Staates passten. Sie hat über körperlichen Drill, psychische Repressalien und Zustände geschrieben, die schlimmer waren als im üblichen DDR-Knast. Neuerdings führt sie auch Besuchergruppen durch den Ort des Schreckens, der seit 1998 Gedenkstätte ist. Doch über diese eine Sache hat sie nie so detailliert reden können. Erst als in jüngster Zeit in den Medien bundesweit das Thema des sexuellen Missbrauchs an Kindern in Schulen und Internaten aufgegriffen, als – wenn auch aus ganz anderer Richtung – Licht in eines der dunkelsten Kapitel des Umgangs mit Schutzbefohlenen geworfen wurde, konnte auch Heidemarie Puls die verdrängte Wahrheit ans Tageslicht holen.
Von den Schilderungen der Frau ist selbst Gabriele Beyler erschüttert. Nicht weil die Vorstandsvorsitzende der Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau solche Vorgänge in dieser Anstalt nicht für möglich gehalten hätte – dafür hat sie schon zu viel Grauenhaftes von ehemaligen Insassen erfahren. Gabriele Beyler ist auch deshalb in höchstem Maße alarmiert, weil sie erst vor kurzem bei der Lektüre von Stasiakten auf den Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) der Stasi gestoßen ist, in dem die gleichen Praktiken sexueller Übergriffe durch den gleichen Erzieher geschildert wurden. Aber der Bericht – der IM war ein Angestellter des Jugendwerkhofs – entstand zehn Jahre später. Das legt den Verdacht nahe, dass dieser Missbrauch System hatte. Zumal es sich bei dem Erzieher K. um keinen Geringeren als den Anstaltsdirektor handelte. Der Bericht an die Stasi scheint keine unmittelbaren juristischen Konsequenzen gehabt zu haben: K. leitete den Jugendwerkhof bis zuletzt. Am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, stirbt er nach längerer Krankheit.
Gemeinsam mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Manfred Kolbe, zu dessen Wahlkreis Torgau gehört, hat Gabriele Beyler vor wenigen Tagen einen Aufruf auf der Homepage des Vereins veröffentlicht, damit sich Insassen aus staatlichen DDR-Kinderheimen melden, die Ähnliches erlitten haben. Denn als einzige Aufarbeitungsinitiative dieser Art ist der Torgauer Verein mittlerweile Ansprechpartner für alle ehemaligen DDR-Heimkinder. „Wir haben schon zahlreiche Reaktionen bekommen, sowohl von ,neuen‘ Betroffenen, als auch von ehemaligen Insassen, zu denen wir schon lange Kontakt haben, die sich aber noch nie getraut haben, sich zu diesem Thema zu äußern.“ Etwa 25 Fälle aus unterschiedlichsten Heimen sind Beyler mittlerweile bekannt. Sie betreffen Kinder, Jungen wie Mädchen, im Alter von sechs bis 17 Jahren. So habe sich ein 56-jähriger Mann gemeldet, der noch nie in seinem Leben, auch nicht mit seiner Frau oder seiner Familie, über dieses Thema gesprochen habe.
Es ist zu vermuten, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Denn insgesamt 474 staatliche Kinderheime gab es in der DDR. Davon waren 38 sogenannte Spezialkinderheime und 32 Jugendwerkhöfe, in denen jene Heranwachsenden verwahrt wurden, die als schwer erziehbar und verhaltensauffällig galten.
Man wisse bisher eine Menge über Gewaltexzesse, auch sexuelle Gewalt, der Heimkinder untereinander, sagt Gabriele Beyler. Dies sei durch die spezielle Strategie hervorgerufen worden, dass immer die Gruppe als Ganze bestraft wurde, wenn ein Einzelner versagte, etwa bei der Erfüllung der sportlichen oder der Arbeitsnorm. Das habe einen extremen Druck in den Gruppen ausgelöst. „Aber bei dem Phänomen der sexuellen Übergriffe durch die Erzieher stehen wir bislang noch ganz am Anfang“, sagt Beyler. Dieses Thema bedürfe dringend einer gründlichen Aufarbeitung durch die Forschung.
Für eine juristische Aufarbeitung ist es ohnehin zu spät. Sexueller Missbrauch an Kindern, der in der DDR mit Haftstrafen bis zu fünf Jahren geahndet wurde, ist nach DDR-Recht nach acht Jahren verjährt. Noch kürzer waren Straf- beziehungsweise Verjährungszeiten bei Missbrauch von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. Aber das sei es auch gar nicht, was die Opfer wollten, sagt Gabriele Beyler. „Sie wollen einfach darüber reden. Und da ist professionelle Betreuung wichtig.“
Heidemarie Puls sagt, sie hätte auch gar nicht die Kraft für eine juristische Auseinandersetzung. Sie will endlich mit diesem Kapitel abschließen: Als Elfjährige wird sie vom eigenen Stiefvater missbraucht. Die Mutter, der sie sich anvertraut, sagt: „Wenn du das irgendjemandem erzählst, lande ich im Gefängnis und du im Heim.“ Als sie versucht, sich das Leben zu nehmen, kommt sie erst in die Kinderpsychiatrie, dann ins Kinderheim. Sie fühlt sich schmutzig, selbst schuldig. Im Heim wird die Fünftklässlerin von Zehntklässlern vor die Wahl gestellt: Entweder Geld her oder du musst lieb zu mir sein. Sie hat kein Geld. Sie reißt aus, mehrfach. Wird in den Jugendwerkhof nach Torgau gebracht. Das Schicksal hält für sie immer eine noch schlimmere Erfahrung bereit. „Wenn man schweigt, wird man die Erinnerung nicht los“, sagt Heidemarie Puls heute. „Nur wenn man sich der Angst stellt, kann man sie besiegen. Ich will Torgau besiegen.“