Türkei: Mindestens 16 Tote: Gefechte im Kurdengebiet gefährden Wahl
Die Zahl der Opfer könnte noch weitaus höher liegen. Präsident Erdogan kündigt entschiedenes Vorgehen gegen PKK-Rebellen an.
Bei schweren Gefechten zwischen der türkischen Armee und PKK-Kurdenrebellen in Südostanatolien sind möglicherweise mehr als 30 Soldaten getötet worden. Der Angriff der PKK bei Daglica in der Nähe der irakischen Grenze schockte Öffentlichkeit und Politik in Ankara. Regierung und Armee haben zunächst keine genauen Opferzahlen bekannt. Nun will Präsident Recep Tayyip Erdogan noch härter gegen die PKK vorgehen als bisher. Einige Politiker und Beobachter sehen die in weniger als zwei Monaten in der Türkei anstehende Neuwahl des Parlaments in Gefahr.
Der gut vernetzte Sicherheitsexperte Metin Gürcan schrieb auf Twitter, rund 500 bis 600 Rebellen hätten ein Armee-Battaillon in Daglica eingekesselt und zwei gepanzerte Truppentransporter in die Luft gesprengt. Die PKK-Rebellen, die im Irak ihr Hauptquartier haben, können das nur wenige Kilometer nördlich der irakischen Grenze gelegene Daglica in etwa sieben bis acht Stunden Fußmarsch erreichen. Ein Sturm in der gebirgigen Gegend hinderte die Armee daran, mit Kampfhubschraubern gegen die PKK-Einheiten vorzugehen.
Die Nachrichtenagentur Reuters meldete unter Berufung auf Sicherheitskreise, 16 Soldaten seien ums Leben gekommen. Die PKK sprach von 31 Toten, andere Quellen berichteten von bis zu 40 toten Soldaten, darunter der Bataillonskommandant. Sollte sich diese Opferzahl bestätigen, wäre der Angriff von Daglica der schlimmste Einzelverlust für die türkische Armee bei einem Zusammenstoß mit der PKK seit Beginn des Konfliktes im Jahr 1984. Vor vier Jahren starben 24 Soldaten bei einem PKK-Angriff in der Provinz Hakkari, zu der Daglica gehört. Seit Sonntag sollen in Daglica über 70 PKK-Rebellen getötet worden sein.
Noch bevor die genauen Opferzahlen bekannt waren, deutete sich an, dass die Gewalt in Daglica ein Wendepunkt sein könnte, der aus den seit Juli eskalierenden Kämpfen einen neuen Krieg macht. Erdogan sagte in einem Fernsehinterview, die Antwort Ankaras auf die neue PKK-Attacke werde „ganz anders und sehr viel entschiedener sein“ als die bisherigen Militäraktionen.
Kurdenpolitiker bricht Deutschland-Reise ab
Nicht nur die PKK lässt die Lage eskalieren. Kurdenvertretern zufolge töteten die Sicherheitskräfte im südosttürkischen Cizre ein 13-jähriges Mädchen. Einige Gegenden des Kurdengebietes wurden von Behörden zu militärischen Sperrzonen erklärt, mancherorts wurden lokale Ausgangssperren verhängt.
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kam mit politischen und militärischen Beratern zu einer kurzfristig anberaumten Lagebesprechung zusammen. Der Chef der legalen Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, brach wegen der neuen Gefechte einen Besuch in Berlin ab und kehrte nach Ankara zurück.
Demirtas forderte, Regierung und Kurden müssten gemeinsam nach einem Ausweg aus der Gewalt suchen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. In mehreren Städten der Türkei gingen Nationalisten zu Protestdemonstrationen gegen die PKK auf die Straße. Aufgebrachte Erdogan-Anhänger bewarfen die Zentrale der Zeitung „Hürriyet“ mit Steinen; regierungsnahe Kreise halten der Zeitung vor, mit der PKK zu paktieren. Die Türkei werde zwischen der PKK und der Erdogan-Partei AKP zerquetscht, kommentierte der Journalist Ihsan Dag: „Willkommen in der Hölle.“
Wahl könnte abgesagt werden
In dem Fernsehinterview erklärte Erdogan, wenn die Parlamentswahl vom Juni eine Mehrheit für das von ihm angestrebte Präsidialsystem ergeben hätte, sähe die Lage heute ganz anders aus. Kritiker werfen dem Präsidenten vor, die Spannungen im Kurdengebiet zu forcieren, um der AKP bei der November-Wahl einen Vorteil zu verschaffen.
Inzwischen wird wegen der Gewalt jedoch über eine Verschiebung der Wahl diskutiert. Schon vergangene Woche hatte Demirtas gesagt, die angespannte Sicherheitslage im Kurdengebiet mache die Neuwahl dort unmöglich. Der rechtsnationale Politiker Ümit Özdag sagte ebenfalls, die Wahl werde möglicherweise noch abgesagt. Der Meinungsforscher Özer Sencar erklärte, angesichts schlechter Umfragewerte für die AKP und Zugewinnen für Demirtas‘ Kurdenpartei HDP könne sich Erdogan entschließen, die Wahl zu stornieren.