Anna Kassautzki im Portrait: Merkels Nachfolgerin verkörpert einen neuen Typ Politiker
Die 27-jährige Anna Kassautzki hat den ehemaligen Wahlkreis von Angela Merkel erobert. Persönlich kennt sie die Kanzlerin aber nicht – trotz einer Parallele.
Anna Kassautzki weiß, wo es lang geht. Durch den unterirdischen Tunnel in genau die Bundestagskantine, in der es an diesem Tag Schnitzel gibt, später über die Brücke im Paul-Löbe-Haus und zur Raucherterrasse. Obwohl sie genauso neu ist im Bundestag wie viele andere Abgeordnete, geht sie ihnen mit schnellen Schritten voraus und zeigt den Weg.
Quatscht auf dem Flur mit Juso-Kollege Kevin Kühnert, trifft andere Abgeordnete in der Kantine, schnackt mit Kolleg:innen im Aufzug. Sie wirkt, als gehöre sie hierher. Dabei könnten die Fußstapfen, in die sie tritt, kaum größer sein. Anna Kassautzki ist die Merkel-Nachfolgerin.
Die Jugend könnte Berlin verändern
Seit 1990 hat Angela Merkel immer den Wahlkreis Rügen-Vorpommern-Greifswald für sich gewonnen. Da sie nicht mehr antrat, sollte Georg Günther für die CDU das Direktmandat holen – und musste sich der 27-jährigen SPD-Konkurrentin Anna Kassautzki geschlagen geben.
In diesem Jahr sind mit fast einem Viertel der SPD-Abgeordneten außergewöhnlich viele Jusos in den Bundestag eingezogen. Die Jugend könnte Berlin verändern. Auch Kassautzki steht für einen neuen Typ Politiker:innen: jung, weiblich, digitalaffin.
„Gerechtigkeit war schon immer mein Ding“
Kassautzki sagt, sie sei behütet aufgewachsen. Als Sandwichkind mit einer älteren und einer jüngeren Schwester in einem hessischen Dorf. Ihr Vater sei eine Zeit lang arbeitslos gewesen, die Familie habe nicht viel Geld gehabt. Manchmal habe sie Ausreden gesucht, wenn sie deshalb nicht mit Freund:innen ins Kino gehen konnte. Ihre Eltern hätten immer wieder gepredigt: „Wenn euch was stört, müsst ihr das sagen und etwas ändern. Kämpft für eure Rechte und setzt euch für die ein, die das nicht können.“
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Kassautzki sagt: „Gerechtigkeit war schon immer mein Ding.“ Sie fahre vor allem klare Kante gegen rechts. „Es heißt ja oft, Nazis seien ein ostdeutsches Problem. Ja, am Arsch, die gibt es überall.“ Deshalb habe sie sich schon mit 13 in der antifaschistischen Jugend engagiert. Ob sie im Bundestag mit der AfD reden wird, weiß sie noch nicht. Podien, die mit der AfD besetzt sind, sagt sie ab. „Das sind Rassist:innen, so etwas sollte man nicht normalisieren.“
Kickboxen und Krav Maga
Während Anna Kassautzki von ihrer Jugend erzählt, sitzt sie in schwarzem Hosenanzug, kombiniert mit weißen Turnschuhen und übergroßer Jeansjacke auf dem Boden eines Bundestagsbüros. Es gibt noch nicht genug Stühle und Arbeitsplätze für alle neuen Abgeordneten. Sie gendert, wenn sie spricht, will Bürger:innen davor schützen, sensible Daten im Netz zu teilen.
Auf den ersten Blick würde man die 27-Jährige vielleicht eher für eine Studentin halten, als eine Abgeordnete. Aber als eine, die taff ist. Sie erzählt, sie habe mehrere Jahre lang Kickboxen gemacht. Während des Wahlkampfes ist sie auf Krav Maga umgestiegen. Eine israelische Kampfsportart, in der man lernt, sich mit allen Mitteln zu verteidigen.
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„Obwohl es immer mal wieder sexistische Kommentare und frauenfeindliche Diskriminierungen gab, hat Anna es als junge Frau geschafft, das Direktmandat zu holen“, sagt ihr Wahlkampfleiter und guter Freund Yannik van de Sand, der sie in diesen Tagen durch das Reichstagsgebäude begleitet. „Sie lässt sich nichts gefallen.“
Er beschreibt sie als durchsetzungsstark, empathiefähig, verlässlich. Kassautzki nennt ihn Schnucki, ihre größte Stütze im Wahlkampf und im Bundestag. Vielleicht ziehen sie für ihren Zweitwohnsitz in Berlin zusammen in eine WG.
Sie feiern bis zwei Uhr nachts
2014 ist sie der SPD beigetreten, engagierte sich von Anfang an auf verschiedenen Ebenen der Partei und der Jusos. War dort so aktiv, dass die Eltern sie daran erinnerten, dass sie sich eigentlich auf das Studium konzentrieren sollte – Staatswissenschaften. Während der heißen Wahlkampfphase häufen sich Presseanfragen aus der ganzen Welt.
Vor allem internationale Medien wollen wissen, was in dem Wahlkreis passiert, den Merkel verlässt. Dann, am Wahlsonntag, kann Kassautzki es kaum glauben, als sie auf der SPD-Wahlparty in Greifswald realisiert, dass sie in den Bundestag einzieht. Sie feiern bis 2 Uhr nachts, am Morgen um 9 Uhr hat sie schon wieder Pressetermine.
Am Montag fährt Kassautzki von ihrem Wahlkreis nach Berlin. „Ask me anything“, postet sie auf Instagram. Sie hat im Zug mehrere Stunden Zeit, Fragen von Bürger:innen zu beantworten. „Mir ist es sehr wichtig, dass ich Transparenz zeige und für die Bürger:innen ansprechbar bin.“
Über Social Media ist die schnelle und niedrigschwellige Kommunikation besonders einfach. „Aber dann hatte ich einfach kein Netz!“ Sie konnte also nichts posten. Im Bundestag hat sie den Ausschuss „Verkehr und (digitale) Infrastruktur“ als ersten Wunsch angegeben.
Gemeinsamkeiten mit Angela Merkel
Jetzt versucht sie, sich in ihrem neuen Job in Berlin einzufinden. Sucht eine zweite Wohnung, wartet noch auf ihr eigenes Büro, stellt schon neue Mitarbeiter:innen ein. Am Mittwoch besucht sie eine Willkommensveranstaltung der SPD für alle Neuen – ähnlich wie bei den Erstsemestern an der Uni.
Und es gibt noch mehr Presseanfragen. Sie wollen wissen, welche Gemeinsamkeiten sie mit Merkel verbinde. Außer, dass die Noch-Kanzlerin damals auch eine junge Frau war, als sie von der CDU für den Wahlkreis aufgestellt wurde. „Ich kenne Frau Merkel nicht persönlich“, sagt Kassautzki dann. „Ich möchte die Erwartungen der Wähler:innen nicht enttäuschen und nehme die Verantwortung mit Demut an.“ Politische Vorbilder habe sie nicht. „Ich möchte einfach Anna Kassautzki sein.“