Streit um EU-Stabilitätspakt: Merkel zieht die Bremse
Die Kanzlerin zieht im Streit um den europäischen Stabilitätspakt die Bremse. Unklar ist, ob das Betonen der Einigkeit eine Kontroverse in der Koalition um die EU-Politik verhindert.
Es gibt Momente in der Politik, da hilft nur noch die Notbremse. Am Mittwoch ist es mal wieder so weit. Angela Merkel hat sich mit dem tunesischen Regierungschef getroffen, aber das interessiert im Augenblick in Berlin kaum jemanden, die Journalisten bei der Pressekonferenz im Kanzleramt schon gar nicht. Seit zwei Tagen ist der schwelende Streit über die Zukunft Europas wieder hell aufgeflammt. In die Glut gepustet hat Sigmar Gabriel. Der SPD-Chef und Vizekanzler hatte eine Idee für eine Neuausrichtung der europäischen Krisenpolitik: „Verbindliche Reformen gegen mehr Zeit beim Defizitabbau.“
Führende Unionspolitiker witterten sofort einen Frontalangriff auf den europäischen Stabilitätspakt. Am Mittwoch spricht Merkel erst mit Gabriel, dann zieht sie die Bremse: „Wir sind uns einig: Es gibt keine Notwendigkeit, den Stabilitätspakt zu ändern.“ Denn alles, was es an Flexibilität zur Lösung der heutigen Probleme brauche, sei im Pakt schon enthalten: „Das ist unsere gemeinsame Überzeugung.“
Das versichert am selben Tag auch Gabriel. „Der Tausch ,gegen verbindliche Reformen gewähren wir mehr Zeit für den Abbau der Defizite’ ist innerhalb des Stabipakts nicht nur möglich, sondern bereits Praxis“, sagt der SPD-Chef dem Tagesspiegel. „Offenbar entgeht manchem, dass man den Stabipakt für die Umsetzung meiner Position nicht aufweichen muss.“ Schließlich fordere er ja genau nicht, was andere EU-Staaten verlangten: eine andere Definition von Defiziten.
Es stimmt, das hat er nicht verlangt. An dem Eindruck, dass er sich solche Forderungen zu eigen machen könnte, ist Gabriel freilich nicht unschuldig – er stellte seine Idee ausgerechnet im französischen Toulouse vor. Die Franzosen aber fordern eine Neudefinition des Stabilitätspakts. Wenn es nach Präsident François Hollande oder auch dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi ginge, würden bestimmte staatliche Investitionen kurzerhand aus der Schuldenquote ihrer Länder herausgerechnet.
Dass Gabriel dafür aus Toulouse Schützenhilfe leisten wollte, war ein naheliegender Verdacht. Als der scheidende Chef der Sozialisten-Fraktion im Europaparlament, Hannes Swoboda, am Dienstag in Brüssel formulierte, man müsse die Stabilitätsregeln „anders interpretieren“, sahen Unionspolitiker endgültig eine sozialdemokratische Verschwörung im Gange – gegen den Stabilitätspakt und gegen dessen entschiedene Verteidigerin Merkel. Eine Sichtweise, die auch ein erfahrener Europa-Parlamentarier wie der Grüne Reinhard Bütikofer für plausibel hält: „Es ist möglich, dass Gabriel versucht, ein Doppelspiel mit Matteo Renzi gegen Angela Merkel hinzukriegen.“
In CDU und CSU wird das Agieren der SPD seit der Europawahl ohnehin misstrauisch beäugt. Viele finden es schon nicht komisch, wie der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz seine Niederlage in einen Sieg umzuwandeln versucht. Schulz ließ am Mittwoch einmal mehr wissen, dass er Vizechef der EU-Kommission zu werden habe; er verstehe seine Wahl zum Fraktionschef der Sozialisten als Auftrag in diese Richtung.
Dass daraus etwas wird, glaubt allerdings inzwischen in Berlin kaum noch jemand. Merkel weiß, was daraufhin in der eigenen Partei los wäre: Die Union gewinnt die Bundestags- und die Europawahl mit klarem Abstand – und dann verdrängt als deutscher Kommissar ein Sozialdemokrat den CDU-Mann Günther Oettinger? „So weit, dass wir das still schlucken würden, reicht nicht mal unsere Gefolgschaft für Angela Merkel“, sagt einer aus der Unionsführung.
Vor dem Hintergrund dieser und der anderen ungelösten Personalfragen in Europa gewinnt der Konflikt um die künftige Ausrichtung der EU-Politik erst recht parteipolitische Sprengkraft. Dabei sind die großkoalitionären Differenzen in der Sache wahrscheinlich wirklich kleiner, als sie erscheinen. Als Finanzminister Wolfgang Schäuble am Dienstag in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel auftrat, sprach sich selbst der gestrenge Kassenhüter dafür aus, dass Krisenstaaten für Reformen, die sie tatsächlich einleiten, auch Anreize geboten werden sollten.
Die dürfen aber, da sind sie sich zumindest in der Union einig, nicht den Stabilitätspakt antasten. Gabriel versichert, dass er derlei auch nicht im Sinn habe: „Ich trete für eine vermittelnde Position ein und will Italienern und Franzosen eine Brücke bauen, wie sie parallel zu den notwendigen Reformen auch Investitionen in Wachstum und Arbeitsplätze finanzieren können.“ Ihm gehe es um eine „flexible Anwendung“, keine Änderung des Stabilitätspakts, aber zugleich darum, die Umsetzung von Reformen verbindlich zu machen, damit es nicht wie bisher oft bei Ankündigungen bleibe.
Das klingt eigentlich so, als könnte es auch die Union mittragen. Nur Gabriels historische Herleitung ruft gleich wieder Abwehrreflexe hervor: Deutschland, sagt der SPD-Chef, habe 2003 in schwieriger Wirtschaftslage schließlich exakt das Gleiche getan, was er jetzt vorschlage: „Agenda 2010 plus mehr Zeit zum Defizitabbau.“ Diese Formel sollten die Deutschen offensiv als „deutsches Modell“ anbieten. Bei CDU und CSU dürfte das indes kaum Freunde finden. Die „flexible Anwendung“ des Stabilitätspakts nach der Methode Gerhard Schröder, nämlich dessen faktische Aussetzung, gilt dort schließlich als Ursünde der Euro-Krise.
Stephan-Andreas Casdorff, Robert Birnbaum
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