Schwierige Verhandlungen in der Türkei: Merkel wird zu Erdogans Marionette erklärt - zu unrecht
Präsident Erdogan gängelt Presse und Opposition. Doch Kanzlerin Angela Merkel vermeidet die öffentliche Konfrontation. Das nutzen ihre Feinde aus – besonders einer.
Der Mann, der die Kanzlerin am Bosporus traf, hat ganz sicher keine Lust auf ihr Scheitern. Der Mann möchte nicht mit Namen zitiert werden, so wie die anderen Teilnehmer der Gesprächsrunde, die Angela Merkel am Sonntagabend in ihr Hotel gebeten hatte. „Vertreter der Zivilgesellschaft“ heißen sie im amtlichen Protokoll, was in der Türkei von heute so viel bedeutet wie: Menschen, die mit Recep Tayyip Erdogan nicht einverstanden sind. Solche wie Metin Feyzioglu zum Beispiel. Der Präsident der türkischen Anwaltskammer hat den Staatspräsidenten vor Jahren mit einer Rede derart in Rage versetzt, dass Erdogan vor laufenden Kameras aus dem Saal stürmte. Die Szene kennen alle, die sich mehr als zwei Stunden mit Merkel unterhalten haben, viel länger als geplant, über die Zustände in ihrem Land und den Staatspräsidenten. Erdogan, sagen sie, nutze jede Kritik als innenpolitische Waffe. „Sie kann da nicht einfach reingehen und ihm die Sachen vor den Latz knallen“, sagt hinterher einer der Gesprächspartner. „Sie weiß, dass man ein dickes Fell braucht bei ihm.“
Auf so viel Verständnis trifft Angela Merkel nicht oft in diesen Tagen. Schon gar nicht, wenn es um das deutsch-türkische Verhältnis geht. Und schon überhaupt nicht, wenn Horst Seehofer in der Nähe ist. Etwa zur gleichen Zeit, als die Kanzlerin mit Erdogans Kritikern redet, spricht ihr größter Kritiker zum deutschen Fernsehpublikum. Man kann seine Ausführungen im „Bericht aus Berlin“-Interview grob so zusammenfassen, dass Merkel gefälligst Erdogan die Sachen vor den Latz zu knallen habe. Justizfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, nun die Immunität der Abgeordneten der kurdischen Oppositionspartei aufgehoben: „Da müsste die ganze Welt aufschreien!“ Stattdessen werde das nur „sehr leise“ angesprochen, „weil man offensichtlich den Deal nicht gefährden will“. In Seehofers verbindliches Lächeln mischt sich jetzt ein onkelhaft tadelnder Zug. „Aber da sag’ ich: Der Zweck heiligt nicht die Mittel!“
Man muss dem Seehofer eines lassen: Sein Gespür für Stimmungen, auf die er sich setzen kann, das funktioniert. Er ist mit seiner Verdachtskritik in zahlreicher Gesellschaft. Der Applaus der AfD ist ihm sicher, in CSU und CDU darf er auf viel Kopfnicken setzen, dazu der Beifall von Linken und Grünen, die seit dem Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei das Wort „Kotau“ regelrecht liebgewonnen haben – außer ein paar hartnäckigen Realpolitikern ist daheim niemand in Sicht, der Merkel nicht seit Tagen zur Marionette Erdogans erklärt.
Überall ist denn auch wieder das alte Foto von einem der letzten Besuche bei Erdogan zu sehen: Die Kanzlerin ganz klein im goldprotzenden Sessel neben dem Sultan von Ankara. Gegen solche Bilder ist schwer anzukommen: Ist doch klar, sagt das Bild, wer da wen dominiert und vorführt!
Merkel hat es vor ihrer Abreise trotzdem mit vernünftigem Widerspruch versucht, im langen Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. „Es gibt natürlich wechselseitige Abhängigkeiten“, hat sie der Zeitung gesagt. „Sie können es auch einfach die Notwendigkeit zum Interessenausgleich nennen.“ Die Türkei will etwas, Europa will etwas anderes, man geht Kompromisse ein, und wenn eine Entwicklung dem anderen „große Sorgen“ bereitet, spricht man darüber. „Es ist völlig selbstverständlich, dass man in dieser aufgewühlten Welt im Gespräch bleiben muss.“
Äh ... Moment. Entschuldigung, bitte. Der letzte Satz ... also, der gehört hier nicht hin. Der stammt vom Seehofer, bevor er im Februar Wladimir Putin besuchte. Als nach dem Treffen in Moskau einer von ihm wissen wollte, ob er bei dem Zaren im Kreml auf die Menschenrechte gepocht habe, wurde er abgekanzelt: „Ich möchte mich nicht zum Oberlehrer oder Vormund anderer machen.“
Wo waren wir stehen geblieben? Richtig: beim Scheitern. „Was mich irritiert, ist“, hat Merkel in dem besagten Interview nämlich noch gesagt, „dass ich manchmal fast so etwas wie eine Freude am Scheitern beobachte.“ Erst hat ihr keiner das Türkei-Abkommen zugetraut, dann hieß es, das funktioniere nie, jetzt werde es beim allerersten Problem sofort wieder für tot erklärt.
Seehofer hat sich da gleich getroffen gefühlt: „Es ist nicht so, wie man es uns unterstellt hat, wir hätten Freude am Scheitern!“ Dabei hat Merkel ihn und die CSU gar nicht erwähnt. Erst später in dem Gespräch taucht die Schwesterpartei auf, als es um Franz Josef Strauß’ Satz geht, dass es rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe. Merkel sagt, dass der Satz für sie nicht gelte, wenn er bedeuten würde, den Rechten unter Preisgabe von eigenen Prinzipien nach dem Mund zu reden. Seehofer fühlt schon wieder sich gemeint. Er schäumt. Wer diesen Satz von Strauß infrage stelle, gebe ein gemeinsames Prinzip von CDU und CSU ab: „Wir in Bayern haben kein einziges Prinzip aufgegeben!“
Wenn man bedenkt, dass sich die beiden Unionsschwestern in genau vier Wochen in Berlin zum Strategietreffen verabredet haben, erscheint das Gespräch Merkels mit Erdogan in Istanbul als leichte Übung. Besonders klug ist es vermutlich ja auch nicht, jetzt gleich noch den Strauß infrage zu stellen. Aber Merkel hat offenbar keine Lust mehr, sich von Seehofer abwatschen und dauernd erzählen zu lassen, ihre Politik bewirke nichts, wohingegen die Grenzschließungen in Österreich ... Unfug, findet Merkel. Die Türkei setze alle Absprachen um. Und 45 000 Flüchtlinge in Griechenland stranden zu lassen, sei weder eine nachhaltige noch eine europäisch akzeptable Lösung.
Außerdem ist ihr die Freude am Scheitern wirklich wesensfremd. Darin liegt übrigens der tiefere Grund dafür, dass sie mit den eigenen Konservativen nie etwas anfangen konnte und mit der AfD-Anhängerschaft noch weniger. Merkel kann die masochistische Wollust nicht nachfühlen, mit der sich da viele in düsteren Zukunftsszenarien wälzen, Risiken beschwören und den eigenen Defätismus auch noch zur Realpolitik erklären. „Wenn Schwierigkeiten auftauchen, versuche ich sie zu überwinden“, sagt die CDU-Chefin im Interview. „Ich will zum Gelingen beitragen.“
Wozu ja dann also am Montag in Istanbul Gelegenheit wäre. Merkel trifft Erdogan am Mittag. Der türkische Präsident ist in seiner Heimatstadt Gastgeber der UN-Nothilfekonferenz, einer bisher einmaligen Veranstaltung, bei der die Opfer von Kriegen, Konflikten und Katastrophen im Mittelpunkt stehen sollen. Erdogan erinnert an die türkische Willkommenskultur, an fast drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Sein Land, sagt er, leiste Hilfe ohne Ansehen der Person: „Schmerz kennt keine Farbe, keine Rasse, keine Sprache oder Religion.“ Und sein Land werde das auch weiter tun. Aber die anderen müssten nun auch ihrer Verantwortung gerecht werden.
Merkel tritt wenig später auf die Bühne. Nötig sei ein weltweites Verständnis für die Probleme: „Wir alle leben auf einem Planeten.“ Ob Seehofer sich schon wieder gemeint fühlt, weil er ja in Bayern lebt, ist nicht bekannt.
Später ziehen sich die Kanzlerin und der Präsident zurück. Sie kennen sich schon lange. Merkel hat Erdogan zum ersten Mal besucht, als sie noch Oppositionsführerin war und sein Aufstieg gerade begann. Ein schwieriger Typ, machohaft und ehrpusselig zugleich, einer, der sich auf den Bolzplätzen des Arme-Leute-Viertels Kasimpasa durchzusetzen lernte. Wie meinte der Mann, der Merkel traf? Sie braucht ein dickes Fell. Hat sie aber auch. Merkel, sagen alle, die sie kennen, hat keine Angst. Noch so ein Grund, weshalb sie Jammer-Ossis nicht versteht und über gut situierte Jammer-Wessis immer nur den Kopf schütteln kann.
Am frühen Nachmittag gibt die Bundeskanzlerin eine kleine Pressekonferenz. Von der Wand im Raum des deutschen Generalkonsulats grüßt ein riesiges Porträt – Wilhelm II., deutscher Kaiser und einst Waffenbruder des Osmanischen Reichs. Merkel ignoriert den Gast in Öl. Ihr Gespräch mit Erdogan hat über eine Stunde gedauert. Man habe offen auch über die schwierige Entwicklung in dem Land gesprochen. „Natürlich ist die Aufhebung der Immunität von einem Viertel der Parlamentarier ein Grund tiefer Besorgnis“, sagt Merkel. Pressefreiheit, ein starkes Parlament, eine unabhängige Justiz, die Einbindung der Kurden als wichtige Voraussetzung für Stabilität – all das sei wichtig und notwendig.
Erdogan sieht das bekanntlich anders. Merkel hat es nicht anders erwartet. „Es bleiben Fragen in diese Richtung offen“, sagt sie nur. Sie hat Erdogan außerdem erklärt, dass es ohne Änderungen der türkischen Anti-Terror-Gesetze nichts wird mit der Visafreiheit für die Türken ab 1. Juli; jener Gesetze, die es möglich machen, dass Journalisten und Politiker und andere, die mit Erdogan nicht einverstanden sind, als Terroristen gebrandmarkt hinter Gitter kommen können.
Auch hier gibt es offene Fragen. Erdogan bleibt beim Nein zur Gesetzesänderung, Merkel bei den 72 Vorbedingungen der Europäischen Union für die Visafreiheit. Dieses Kriterienpaket übrigens, erinnert sie, stamme aus dem Jahr 2013. Hinter der Jahreszahl steckt ein klarer Fingerzeig an alle, die neuerdings auf türkischer Seite behaupten, die Europäer hätten bei ihren Bedingungen draufgesattelt. 2013 war Erdogan noch Regierungschef und direkter Verhandlungspartner der EU.
Ob es denn, fragt ein Reporter, wirklich klug gewesen sei, das Flüchtlingsthema mit der Visafreiheit zu verbinden? Merkel verweist aufs große Ganze: Alles hänge miteinander zusammen. Aber dass das Abkommen mit der Türkei vor dem Aus stehen soll – ja, warum denn? Merkel wird kaum entgangen sein, dass der gleiche sture Erdogan im britischen „Guardian“ soeben den EU-Türkei-Pakt als geradezu beispielhaft für Lastenteilung gelobt hat: „Um illegale Zuwanderung unter Kontrolle zu halten, müssen Europa und die Türkei zusammenarbeiten, um legale Mechanismen für die Umsiedlung syrischer Flüchtlinge zu schaffen, wie das Abkommen vom März 2016.“ Und da soll sie jetzt resignieren? „Wenn es etwas länger dauert, um die vollständige Umsetzung zu schaffen, dann müssen wir eben intensiv miteinander sprechen, das ist meine Einstellung dazu.“
Wie sagte der Mann noch, den Merkel am Bosporus traf? „Es ist ein Balanceakt.“ Er hat Verständnis dafür. Merkel wisse, wie Erdogan Kritik innenpolitisch ausnutze, und wäge die Wirkung öffentlicher Äußerungen sorgsam ab. Vielleicht sollten alle, die sich neuerdings um das Schicksal der Türken so lautstark sorgen, von ihm und seinen Mitstreitern lernen. Geduld zum Beispiel und die Kraft zur Hoffnung und, ja, zum Vertrauen. Merkel sei sehr gut informiert gewesen, loben die „Vertreter der Zivilgesellschaft“ die deutsche Kanzlerin, und sehr interessiert: „Sie hörte intensiv zu und wollte nicht nur bestätigt haben, was sie ohnehin wusste.“
Vor allem aber, sagen sie hinterher, sei es ungemein wichtig, dass sich Europa nicht abwende, dass der Einfluss aus dem Westen erhalten bleibe. „Es ging um die Notwendigkeit, die Kontakte zu vertiefen“, sagt einer der Bürger. „Das heißt nicht, dass man immer nur nett zueinander ist.“ Aber es heißt eben auch nicht, dass man aufschreit, bloß damit der Horst danach ja trotzdem keine Ruhe gibt.
In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Horst Seehofer habe sich in der Sendung "Berlin direkt" geäußert. Tatsächlich gab er das Interview der Sendung "Bericht aus Berlin". Wir bitten das Versehen zu entschuldigen.