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Angela Merkel, kurz nach ihrer Ankunft in Minsk.
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Angela Merkel und der Frieden von Minsk: Merkel verspricht nichts, was sie nicht halten kann

Nimmermüde, zurückgenommen, unbeirrt – wer verhandelt wie Angela Merkel, hat Erfolg. Woran liegt das? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Ganz selten, in Ausnahmesituationen, darf man vielleicht auch mal etwas heranziehen zum besseren Verständnis, was man sonst nicht täte. In diesem Fall sind es die Herrnhuter Losungen, die der evangelische Christ morgens liest, um sich auf den Tag einzustimmen. Und jetzt kommt’s: Angela Merkel, geborene Kasner, ist die Tochter eines sehr politischen evangelischen Pfarrers. Sie macht kein großes Aufhebens davon, fand ja auch lange, dass Christsein, Religion Privatsache sei. Nun ja. Aber die Losung des Tages, an dem sie über Krieg und Frieden, beides, verhandelte, lautete: „Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seinerzeit werden wir auch ernten.“ Nicht überliefert ist, ob Merkel Losungen liest, aber sie kennt sie ganz gewiss. Und sie hat danach gehandelt, nimmermüde, unentwegt, unbeirrt.
Diese Form des Stoizismus unter Verzicht auf übliche Eitelkeiten sichert ihr die Zustimmung, die nötig ist, um zu regieren. Sowohl im Land, in Deutschland, als auch in Europa und darüber hinaus. Der Mangel an Strahlkraft wird, je länger er dauert, umso bemerkenswerter. Frei nach einem vormals bekannten Mann, nach Franz Josef Strauß: In ihr werden sich viele wiedererkennen und manche, besonders männliche Politiker, denken, dass sie das auch könnten.
Wirklich? Sich so zurückzunehmen, dass es schon wieder auffällt, das kann nicht jeder. Man(n) muss es auch lange genug durchhalten und vor allem lange aushalten, anders und nicht selten abschätzig angesehen zu werden, ehe die Chance besteht, dass einem diese Art zum Vorteil gereicht. Oder sogar eine Form von Bewunderung hervorruft.
Nun, sicher, wir reden hier von einer Persönlichkeitsstruktur, die erstmal nicht jeder hat und die in der Politik bisher auch nicht verbreitet war; weil sie keine Chance hatte. Wer kein Alpha-Tier war, und sei es als Frau, verlor. Margaret Thatcher, Indira Gandhi, Golda Meir – sie waren anders als Angela Merkel, und es waren andere Zeiten. Unsere Zeiten, so unübersichtlich sie (geworden) sind, bieten einer Persönlichkeit wie der von Merkel andere Chancen. Denn es gibt so vieles, was zu bewältigen ist, und nicht das eine, gegen das mit aller Macht zu sein Siege, Triumphe und Anhängerschaft verspricht. Auch Gefolgschaft ist heute kein Terminus Politicus mehr. Heute geht es um Krisenbewältigung und die Beherrschung vieler Krisen zugleich auf Sicht.

Die Bundeskanzlerin verspricht nichts, was sie nicht halten kann

„Auf Sicht“, diesen Begriff würde Merkel wohl unterschreiben. Ihr geht es um nicht mehr und nicht weniger. Auf Sicht heißt, einen Schritt nach dem anderen zu setzen, sich absichernd, um zum Ziel zu kommen und nicht im Abgrund zu landen. In diesem eher tastenden Verhalten verspricht die Bundeskanzlerin nichts, was sie nicht halten kann. Aus sich selbst heraus, aus der Sache heraus. Sie produziert keine Enttäuschungen, weil sie keine übergroßen Erwartungen weckt. So ist jeder Fortschritt willkommen. Wie jetzt in Minsk.
Und wenn es einen Fortschritt gibt, relativiert sie ihn sofort. Was auch eine Form politisch-persönlicher Klugheit ist. Denn sagt jemand, dass noch vieles zu tun bleibt – wer wird dann wohl mit dem Mandat ausgestattet, den Rest auch noch zu tun? Darauf kann Merkel vertrauen: auf das Zutrauen, dass sie die Dinge sieht, wie sie sind. Der Einwand liegt auf der Hand, dass sie nicht diejenige ist, die großartig beschreibt, wie die Dinge sein sollten, nach dem Motto: Visionäre oder Utopisten sind die wahren Realisten. Aber von ihr darf und wird niemand alles erwarten. Denn, wie gesagt, das begründet ja ihre Ausstrahlung: dass die Erwartungen ihrem Maß entsprechen müssen.
Und so, wie sich das in Deutschland mitgeteilt hat, teilt es sich mehr und mehr in Europa und darüber hinaus mit, in Ländern , in denen zumeist Männer große Reden halten, aber ihre darin gegebenen Versprechen nicht einhalten. Da hat man dann schon lieber deutsche Wertarbeit, Politik made in Germany.
Interessanterweise lässt sich diese Beobachtung auch auf die Vorgänger ausdehnen. Auch von denen kam, je unterschiedlich, deutsche Wertarbeit. Aber nicht alle werden von der Geschichte in große Zusammenhänge und Zwänge gestellt. In denen braucht es dann auch Fortüne – und auch das hat Merkel.
Dazu gehört, dass in jeder Kanzlerschaft der Punkt kommt, da das Ende aller Prinzipienfreiheit erreicht ist. Merkel steht mit Minsk jetzt ein für zivile politische Lösungen auch härtester militärischer Konflikte. Das ist ein großer Anspruch, einer, dem sich Großmächte so bisher nicht gestellt haben. Sie verlieren, siehe die USA, am Ende doch die Geduld und wollen zu den Waffen greifen. Wenn die Bundeskanzler sich hier durchsetzt, dann nennen wir das die „Merkel-Doktrin“. Und wenn das so weit ist, sind allergrößte Ehren als Ernte nicht mehr weit.

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