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Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu unterhalten sich im Flüchtlingslager Nizip I mit einer Flüchtlingsfamilie, wobei Davutoglu das jüngste Kind auf dem Arm hält.
© Bundesregierung/Steffen Kugler/dpa
Update

Kanzlerin zu Besuch in der Türkei: Merkel im Flüchtlingslager: Wenig Zeit, viel Symbolik

Nur fünf Stunden dauert Merkels Besuch in der Türkei. Da ist kaum Raum für Gespräche mit Flüchtlingen – aber Gelegenheit für Bilder und Signale.

Die syrischen Kinder kleben förmlich am Zaun des Flüchtlingslagers im südosttürkischen Nizip, einige sind auf ein Spielgerüst geklettert, um einen besseren Ausblick zu bekommen. So eine Abwechslung vom Camp-Alltag hatten sie noch nie. Auf der Hügelkette neben dem Lager stehen Panzerfahrzeuge und Soldaten, um den prominenten Besuch zu schützen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kommen am Samstag vorbei - wenn auch nur für 30 Minuten.

Zwei Busse mit dem Siegel des Ministerpräsidenten fahren ein, auf den rollenden Fahrzeugen stehen martialische Personenschützer mit Schnellfeuergewehren. Drei Armeehubschrauber haben den Konvoi vom etwa 50 Kilometer entfernten Flughafen der Stadt Gaziantep aus begleitet, wo Merkel, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Vizekommissionschef Frank Timmermans gelandet sind.

Vier syrische Flüchtlingsmädchen bilden das Empfangskomitee, sie sind in die traditionelle Tracht von Tscherkessinnen gekleidet und überreichen der Besucherin aus Berlin einen bunten Strauß Blumen. Der Vater von zwei der Mädchen heißt Mohammed Tomok. Mit seinem Enkel leben drei Generationen seiner Familie in dem Flüchtlingslager.

Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte im Flüchtlingslager Nizip I auch eine Kindergartengruppe.
Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte im Flüchtlingslager Nizip I auch eine Kindergartengruppe.
© dpa

Am Sonntag trifft Merkel Obama in Hannover

„Es ist sehr gut hier“, sagt Tomok und streckt seinen Daumen nach oben. Was sich der 48-Jährige aus Damaskus vom Merkel-Besuch wünscht, erscheint ein bisschen viel auf einmal: „Ich hoffe, dass Europa und Amerika Frieden in meinem Land schaffen.“ Er selber sei Pilot in der syrischen Luftwaffe gewesen und desertiert. „Ich kann niemanden töten“, sagt er. „Ich will Frieden.“ Am Abend rauscht Merkel wieder ab. Am Sonntag empfängt sie US-Präsident Barack Obama in Hannover. Tiefergehende Gespräche mit Flüchtlingen über deren verzweifelte Lage sind kaum möglich.

Merkels Reise ist eine der Symbole. Der Signale. Der Bilder. Das erste hängt gleich zur Begrüßung am Flughafen von Gaziantep, wo Merkel auf Plakaten prangt. „Wir sind stolz auf unsere Kanzlerin Frau Angela Merkel und unseren Ministerpräsidenten Herrn Ahmet Davutoglu“, steht dort auf Deutsch. Merkel blickt auf dem Bild visionär in die Ferne. Die Plakate hat die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) in der ganzen Stadt aufhängen lassen. Sie steht der türkischen Regierungspartei AKP nahe und organisiert die Auftritte von Präsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland.

Angela Merkel, Donald Tusk und der türkische Premier Ahmet Davutoglu im Flüchtlingslager Gaziantep in der Türkei.  
Angela Merkel, Donald Tusk und der türkische Premier Ahmet Davutoglu im Flüchtlingslager Gaziantep in der Türkei.  
© REUTERS

Der ungewohnte UETD-Applaus für Merkel zeigt, wie nahe Ankara und Berlin wegen der Flüchtlingskrise zusammengerückt sind. Zu nah, wie viele Deutsche meinen: In dem am Tag vor der Türkei-Reise veröffentlichen Politbarometer von ZDF und Tagesspiegel finden 80 Prozent der Befragten, die Kanzlerin nehme zu viel Rücksicht auf Erdogan. Sogar von Kuschen und deutscher Abhängigkeit ist die Rede. Es gibt aber nicht nur Kritik an Merkels Türkei-Kurs, sondern auch am Flüchtlingspakt insgesamt. Kritiker sehen in ihm ein Werkzeug zur Abschottung gegen Flüchtlinge. Dem Pakt zufolge sollen sie in der Türkei bleiben.

Merkel will mit dem Besuch das Signal aussenden, dass nicht nur die Abschiebungen von den griechischen Inseln in die Türkei begonnen haben, sondern dass jetzt auch die europäische Hilfe für die Flüchtlinge in der Türkei anläuft, für die die EU zunächst drei Milliarden Euro stellt. Also: Der EU-Türkei-Pakt funktioniert. Dabei gibt es durchaus noch ungelöste Fragen. Etwa die Umsetzung der Vorgaben für die Türkei, um die in Aussicht gestellte Visumfreiheit zu bekommen, und Schutzzusagen für nichtsyrische Flüchtlinge - zunächst erst einmal Afghanen und Iraker.

Davutoglu zieht trotzdem eine erste positive Bilanz. Die Flüchtlingszahlen in der Ägäis seien „rapide gesunken.“. Er ist sich sicher, dass die Bewältigung der Flüchtlingskrise einmal „in goldenen Buchstaben“ in die Geschichtsbücher Eingang finden wird. Die Besucher aus Berlin und Brüssel zollen der Türkei - die nach Regierungsangaben 2,7 Millionen Syrer aufgenommen hat - viel Respekt für ihre Flüchtlingspolitik. Beeindruckt sagt Tusk: „Die Türkei ist heute das beste Beispiel in der Welt dafür, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten. Keiner hat das Recht, die Türkei zu belehren.“

Der Türkei wird Respekt für die Aufnahme der Flüchtlinge gezollt

Auf dem nur fünfstündigen Programm steht noch die Eröffnung eines aus dem neuen EU-Topf finanzierten Zentrums zur Unterstützung von Flüchtlingskindern. Merkel und Davutoglu werden von jungen AKP-Anhängern bejubelt. Sie rufen: „Die Gegend ist stolz auf Euch und Dich.“ Merkel sagt, die Europäische Union setze hier im Rahmen des Flüchtlingspakts mit der Türkei an und könne viele sinnvolle Projekte unterstützen. Die EU müsse sich engagieren, „damit alle Kinder eine Schulausbildung bekommen können“.

Davutoglu sagt über den Besuch: „Wir sind hier, um syrischen Flüchtlingen zu helfen." International wird der Türkei Respekt dafür gezollt, mit nach Regierungsangaben 2,7 Millionen Syrern mehr Flüchtlinge als jedes andere Land der Welt aufgenommen zu haben.

Die Flüchtlingspolitik gehört jedoch zu den wenigen Bereichen, für die die Türkei noch Anerkennung erfährt. Besonders große Sorge bereitet in der EU der Umgang Ankaras mit der Meinungsfreiheit, der in Deutschland zuletzt geradezu eine Staatsaffäre auslöste. Der Satiriker Jan Böhmermann las im Fernsehen ein vulgäres Gedicht über Erdogan vor. Nun verklagt der Präsident den Mann.

Angela Merkel und der türkische Premier Ahmet Davutoglu im Flüchtlingslager Gaziantep in der Türkei.  
Angela Merkel und der türkische Premier Ahmet Davutoglu im Flüchtlingslager Gaziantep in der Türkei.  
© Uygar Onder Simsek/dpa

Merkel bekennt sich unmittelbar vor ihrem Türkei-Besuch im Fall Böhmermann zu einem Fehler. Das ist aus ihrer Sicht nicht ihre - in diesem Fall eines ausländischen Präsidenten nötige - Ermächtigung der Justiz zu Ermittlungen. Sondern, dass sie Böhmermanns Zeilen früh und ohne Not als „bewusst verletzend“ eingestuft hat.

Damit sei der Eindruck entstanden, sie verteidige nicht mehr so entschieden wie früher die Meinungs- und Pressefreiheit. „Und dass so eine Situation entstehen kann, wo gedacht wird, das würde jetzt aufgegeben, weil wir gerade mal mit der Türkei ein Abkommen gemacht haben, das ist fehlerhaft gewesen.“

Das hat es in ihrer bald elfjährigen Kanzlerschaft selten gegeben. Es dürfte kein Zufall sein, dass sie just vor ihrem Türkei-Besuch diese Wende vollzieht. Noch so ein Signal. Eine Kanzlerin, die wegen der Flüchtlingskrise unter Druck steht, deren Umfragewerte sinken und der wegen eines Paktes mit der Türkei der Vorwurf der Erpressbarkeit gemacht wird, stellt sich vor die Kameras und gibt einen Fehler zu.

Wohl auch ein Zeichen der Stärke. Und eine Botschaft an die Türkei: Merkel geht ihren eigenen Weg.

Zum Abschluss des Besuchs in Gaziantep sagt die Kanzlerin, sie wisse um die Sorge von Bürgern, dass Freiheitsrechte kein Thema mehr seien, „weil Deutschland in eine bestimmte Abhängigkeit der Türkei“ geraten sei. Sie versichert aber, wenn es um Fälle der Pressefreiheit gehe, „dann wird das angesprochen, dann wird das auf den Tisch gelegt“.

Davutoglu weist Kritik an Einhaltung der Pressefreiheit zurück

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat Mahnungen der EU zur Einhaltung der Pressefreiheit zurückgewiesen und neue Vorwürfe im Fall Böhmermann erhoben. Er habe mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk am Samstag über diese Themen geredet.

"Wir können nicht akzeptieren, dass wir von oben und außen beurteilt werden", sagte er in einer gemeinsamen Pressekonferenz in der türkischen Stadt Gaziantep. Ohne den Satiriker Jan Böhmermann beim Namen zu nennen, kritisierte er den Beitrag über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. "Pressefreiheit kann es nur zusammen mit der Menschenwürde geben", sagte er.

Dies sei bei einem sogenannten "Schmähgedicht" aber nicht gewahrt. Sowohl Merkel als auch Tusk betonten dagegen die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Man habe auch über den Fall eines ARD-Journalisten gesprochen, dem die Einreise in die Türkei verweigert worden war, sagte Merkel. Sie räumte ein, dass man sich nicht einig geworden sei.

Dies komme allerdings auch in Diskussionen mit EU-Ländern vor. "Bis jetzt haben Gespräche dazu geführt, dass wir mehr Fortschritte haben, als wenn wir nicht miteinander geredet hätten", sagte sie und wies damit Vorwürfe zurück, dass die EU trotz des repressiven Vorgehens der Türkei gegen Medien eng mit der Regierung in Ankara in der Flüchtlingskrise zusammenarbeite.

Tusk verwies auf eine sehr feine Grenze zwischen Kritik, Beleidigung und Diffamierung. Wenn Politiker über diese Grenze selbst entscheiden wollten, "könnte dies das Ende der Meinungsfreiheit sein", warnte er. Ohne Erdogan beim Namen zu nennen, sagte er, Politiker müssten sich ein dickes Fell zulegen.

(dpa/Reuters)

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