Willkürliche Festnahmen in Syrien: „Mein Vater ist seit 2251 Tagen verschwunden“
Zehntausende werden in Assads Gefängnissen festgehalten. Ein Gespräch mit Wafa Mustafa über ihren verschleppten Vater, das Schweigen des Regimes und Hoffnung.
Das Regime schlägt im Verborgenen zu. Es gibt keinen Haftbefehl, keinen Prozess, keine offizielle Bestätigung über den Verbleib der Menschen. Sie verschwinden einfach. Spurlos. Was heißt: Syrer, die den Machthabern nicht genehm sind, werden willkürlich festgenommen und landen in staatlichen Kerkern.
Zahlen der Menschenrechtsgruppe Syrian Network for Human Rights zufolge befinden sich derzeit 140.000 Syrer in offiziellen Haftanstalten oder geheimen Verliesen. Viele werden nach übereinstimmenden Berichten massiv gefoltert, Tausende sind bereits ums Leben gekommen. Allerdings sind vielfach auch dschihadistische und oppositionelle Milizen verantwortlich dafür, dass Syrer verschleppt werden.
An diesem Samstag wollen Organisationen wie Adopt a Revolution und Families for Freedom vor der Russischen Botschaft (Unter den Linden 63–65) von 16 bis 18 Uhr mit einer Kundgebung auf das Schicksal der Verschwundenen aufmerksam machen und für ein Ende der Praxis des „Verschwindenlassens“ demonstrieren. Moskau ist Assads wichtigster Verbündeter. Auch die 29-jährige Wafa wird dabei sein. Sie setzt sich für die Verschwundenen ein.
Wafa, Ihr Vater gehört zu den Tausenden, die in Syrien verschwunden sind. Was wissen Sie über seinen Verbleib?
So gut wie nichts. Er ist am 2. Juli 2013 spurlos verschwunden. Ein Nachbar hat es uns so geschildert: Gegen 10 Uhr morgens sind Sicherheitskräfte ins Haus eingedrungen, sie zerschlugen das Mobiliar und verschleppten meinen Vater. Dass es Vertreter des Staates waren, scheint mir plausibel. Wir lebten in Damaskus in einer Gegend, in der Präsident Baschar al Assad wohnt, die also vom Regime kontrolliert wird. Seitdem gibt es keine Informationen über seinen Verbleib. Wir wissen weder, wo mein Vater Ali sich befindet, noch ob er am Leben ist.
Keine Information seit sechs Jahren?
Nein, nichts. Wir haben wie alle Syrer, die nach Verschwundenen suchen, Anwälte eingeschaltet. Haben über Beziehungen versucht, etwas in Erfahrung zu bringen – Fehlanzeige.
Haben Sie eine Vermutung, warum Ihr Vater festgenommen wurde?
Er war bereits vor dem Aufstand gegen Präsident Assad politisch aktiv. Zwei Mal inhaftierten die Behörden ihn deshalb. Das war 2006 und dann fünf Jahre später. 2011 hatte mein Vater an friedlichen Demonstrationen gegen den Machthaber teilgenommen und sich für Opfer des Regimes eingesetzt. Dann ist er 2013 verschwunden.
Wie haben die Behörden reagiert?
Gar nicht. Es gibt ja auch keine Stelle, an die man sich in derartigen Fällen wenden kann. Keinem ist es möglich, sich bei den Sicherheitskräften zu erkundigen. Selbst Anwälte können da so gut wie nichts ausrichten. Sie sind ebenfalls auf ihre Beziehungen angewiesen. Syrien hat ja nichts mit einem Rechtsstaat zu tun. Niemand kann sich in einer Diktatur auf Gesetze berufen.
Die betroffenen Familien sind der Willkür der Herrschenden ausgeliefert?
Ja, es gibt prinzipiell nur zwei Mittel, um an Informationen zu kommen: Beziehungen und Geld. Beides hat im Fall meines Vaters nichts gebracht. In Syrien selbst kann ich nichts mehr ausrichten. Ich kann nur versuchen, mich von außerhalb für die Verschwundenen einzusetzen. Ich versuche Leute zu treffen, die womöglich Druck auf das Regime ausüben können, und engagiere mich bei Gruppen wie Families for Freedom. Am Samstag werde ich mit ihnen vor der russischen Botschaft demonstrieren, um auf das Schicksal der Verschwundenen aufmerksam zu machen. Es geht um Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Wir wollen endlich wissen, wie es unseren Angehörigen geht und wo sie sich befinden!
Sie selbst leben mittlerweile in Berlin. Wie ist es dazu gekommen?
Das war nicht beabsichtigt. Als mein Vater verschleppt wurde, bin ich mit meiner Mutter und meiner Schwester in die Türkei geflohen. Dort schloss ich mich einer Gruppe an, die auf die Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ aufmerksam machte. Doch zwei Mitglieder wurden von den Dschihadisten ermordet. Deshalb haben wir die Türkei verlassen und sind nach Deutschland gekommen.
Auf Whatsapp zählen Sie die Tage seit dem Verschwinden Ihres Vaters. Am Freitag waren es 2251. Haben Sie immer noch Hoffnung?
Ich habe gar keine andere Möglichkeit, als weiter zu hoffen. Denn es geht nicht allein um meinen Vater, sondern um Verantwortung gegenüber allen Verschwundenen. In der Sekunde, in der ich die Hoffnung verlöre, würde ich nicht nur meinen Vater aufgeben,sondern auch alles, wofür er sich eingesetzt hat: die Revolution, Demokratie, Freiheit. Die Hoffnung aufgeben bedeutete also, dem Regime den Sieg zu überlassen. Das würde nicht nur meinen Vater sehr enttäuschen, sondern auch alle Syrer, die für ein anderes Syrien kämpfen.
Christian Böhme