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Auf der Tonne. Unser Autor an einer Station seiner Flucht.
© privat

#jetztschreibenwir: Mein Sprung über die Mauer

Von Afghanistan nach Teheran und weiter bis zur türkischen Grenze: Es ist kalt, einer stirbt. Und dann – die Mauer. Geschichte einer abenteuerlichen Flucht.

Azadi-Platz (Freiheitsplatz), Teheran, 12 Uhr. Es ist unerträglich heiß. Meine Muskeln verkrampfen. Wir vier liegen eng aneinandergedrängt, die Beine angewinkelt, bewegungsunfähig. Nach mehr als zehn Tagen zu Fuß und in Schleuser-Autos sind wir völlig übermüdet, ausgehungert und durstig in der iranischen Hauptstadt angekommen. Ramitullah, Nagebullah, Moshtag und ich, alle Anfang 20, sind aus der afghanischen Provinz Orazghan geflohen. Wegen unserer traditionellen afghanischen Kleidung sollten wir uns im Kofferraum eines Wagens verstecken. Der Fahrer hat uns eingebläut, die Polizei würde uns alle festnehmen und ins Gefängnis stecken, wenn sie uns in seinem Auto entdecke. Auch ihn. Afghanen zu transportieren scheint hier verboten zu sein.

Acht Stunden verbringen wir im Kofferraum

Nach einer Stunde fahren wir endlich von Teheran los. Wir wissen nicht, wohin die Reise geht – Schleuser geben nie ihre genauen Pläne preis. Unsere Schleuser werden von der Türkei aus organisiert. Wenn sie mich nach Deutschland bringen, sollen sie von meiner Familie 10 000 Dollar bekommen. Meine Familie und ich werden seit Langem von den Taliban bedroht. Mein Onkel war ein Berater des ehemaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, er versteckt sich nach Morddrohungen in einer anderen Provinz. Mein Cousin wurde ermordet.

Ungefähr acht Stunden verbringen wir im Kofferraum. Der Sauerstoff wird knapp, keiner von uns spricht. Auf einmal bemerke ich, dass sich ein Tor öffnet, das Auto fährt hindurch und bleibt vor einem Haus stehen. Die Wagentür öffnet sich, Männerstimmen sind zu hören. Nach ein paar Minuten wird die Heckklappe geöffnet, wir sollen herausklettern, da wir am Ziel seien: in der Stadt Urmia, nahe der iranisch-türkischen Grenze. Zwei Tage bleiben wir in dem Haus. Am dritten Tag werden wir informiert, dass wir am Abend Richtung Türkei abfahren werden: Es werde in den Bergen sehr kalt sein und wir müssten lange laufen. Wir sind sehr aufgeregt.

Vor uns ragen schneebedeckte Berge empor

Langsam wird es dunkel. Ein Auto kommt an. Im Auto sitzen bereits weitere Mitfahrer. Die Fahrt dauert zwei Stunden. Danach müssen wir zu Fuß weiter. Inzwischen ist es 21 Uhr, wir frieren in der kalten Abendluft. Unter unseren Mitfahrern ist einer, der krank aussieht, wahrscheinlich ist er drogensüchtig. Der Schleuser redet auf ihn ein, er könne den langen Weg nicht schaffen, es sei verschneit und eiskalt. Der Mann widerspricht, besteht darauf, dass das für ihn kein Problem sei, dass er mitkommen werde.

Vor dem Aufbruch ermahnt uns der Schleuser, dass wir nicht miteinander sprechen sollen. Und schon geht es los. Vor uns ragen die schneebedeckten Berge steil empor. Es sind zwei Schleuser, einer führt die Gruppe an, einer läuft hinter uns her. Unsere Köpfe sind gesenkt, wir kommen nur langsam vorwärts. Je höher wir steigen, desto kälter wird es, desto mehr Schnee liegt. Zwei Stunden dauert unser Marsch.

Der Kranke liegt reglos im Schnee. Was kann ich tun?

Der Kranke fällt etwas zurück. Plötzlich ruft der Schleuser hinter uns, wir sollen stehen bleiben. Der Kranke sei gestürzt und könne nicht mehr weiter. Der Schleuser läuft auf uns zu und sagt hastig, jemand müsse ihm helfen. Keiner reagiert. Ich stehe auf und biete meine Hilfe an – beim US-Militär in Afghanistan habe ich einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Der Mann liegt reglos im Schnee, auf meine wiederholte Frage, wie es ihm gehe, antwortet er nicht. Er gibt keinen Laut von sich, also schüttele ich ihn, flehe ihn an, sich aufhelfen zu lassen. Er bewegt sich nicht. Langsam gerate ich in Panik. Was kann ich tun? Ich kontrolliere seinen Puls. Keine Herzschläge. Ich kontrolliere seinen Atem. Nichts, kein Hauch ist zu spüren. Dann sagt der Schleuser, der Mann sei tot. Einfach so.

Traurigkeit überfällt mich, alle Hoffnung schwindet. Ich denke: Wir werden es niemals lebend in die Türkei schaffen. Die Leiche des Mannes kann ich einfach nur an den Wegesrand ziehen – und dem Schleuser vertrauen, der verspricht, den Toten am nächsten Morgen irgendwo zu begraben.

Eine zwei Meter hohe Mauer mit Stacheldraht

Als ich den anderen alles erzähle, sehe ich, wie die Hoffnung auch aus ihren Gesichtern schwindet. Doch uns bleibt keine Zeit, der Schleuser drängt, wir müssen weiter. Bis vier Uhr morgens marschieren wir, dann erreichen wir die iranisch-türkische Grenze. Das Problem ist offensichtlich: Vor der Grenze erstreckt sich eine flache Landschaft ohne Bäume. Dahinter: die iranische Grenzpolizeistation und eine zwei Meter hohe Mauer mit Stacheldraht. Der Schleuser beschwört uns, auf sein Kommando so schnell wie möglich loszurennen, auf keinen Fall dürften wir stehen bleiben. Und wir sollten nicht auf die Schüsse der Grenzpolizisten achten, die würden nur mit Platzpatronen schießen. Wenn wir die Mauer erreichten, sollten wir darüber klettern. Auf der anderen Seite warte die Türkei.

Wir nicken. Dann sagt er: „Rennt los!“ Wir rennen. Wir rennen um unser Leben. Doch ich habe Pech, den Stein unter dem Schnee habe ich nicht gesehen. Ich strauchele und falle der Länge nach hin. Als ich mich wieder aufrappele, entdecken mich die iranischen Grenzpolizisten. Sie richten einen großen Scheinwerfer in unsere Richtung und fangen an zu schießen. Wir laufen weiter, immer weiter, auf die Mauer zu.

Doch plötzlich ein Schmerzensschrei, ein Freund, der vor mir läuft, schreit „Mich hat's erwischt!“ und fällt zu Boden. Offenbar schießt die Polizei doch mit echten Patronen. Die Schüsse, die vor uns auf den Schnee prasseln, sprengen den Schnee in die Luft. Ein anderer Mitreisender lässt sich aus Angst auf den Boden fallen – er wird es nicht schaffen. Wir anderen laufen weiter, erreichen die Mauer, klettern verzweifelt hoch, verletzen uns an Händen und Beinen, springen in die Türkei. Geschafft!

Ramitullah wird ohnmächtig

Meine Glieder zittern, ohne dass ich sie kontrollieren kann, tiefe Erschöpfung überkommt mich. Meinen Rucksack nehme ich ab, schmeiße ihn von mir – ich kann nichts mehr tragen. Noch ein bisschen renne ich weiter, nur weg von der Grenze, denke ich.

Ramitullah wird vor Müdigkeit ohnmächtig und sinkt zu Boden. Wir umringen ihn. Ich massiere ihm Füße und Hände, gebe ihm einen Schluck Wasser, bis er wieder zu sich kommt. Zwei türkische Schleuser, die von den iranischen Schleusern informiert wurden, kommen zu uns. Mit ihnen laufen wir weiter bis zu einem türkischen Dorf. An einem Haus halten wir an. Wir haben Glück. Die Besitzerin, eine junge Frau mit vier Kindern, nimmt uns auf, sie macht Feuer und gibt uns für 30 Lira Milch und Eier.

Unser nächstes Ziel ist die Stadt Van, von dort wollen wir nach Istanbul. Doch unterwegs erwischt uns die türkische Grenzpolizei. Man bringt uns zu einer Polizeistation. Stundenlang werden wir verhört, bis tief in die Nacht. Einer der Polizisten ist nett zu mir, weil ich Englisch spreche, er gibt uns Tee, Kekse und Schokolade und sagt, als er uns ins Gefängnis bringt, wir seien jetzt Freunde. Drei Wochen verbringen wir im türkischen Gefängnis, danach bringen sie uns in ein Flüchtlingscamp. Dort bleibe ich nur einige Tage – ein türkischer Schleuser holt mich raus und setzt mich in einen Bus nach Istanbul. Wie es von dort weiterging, über Bulgarien, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland – das ist eine andere Geschichte.

Aus dem Persischen übersetzt von Mohammad Rasoulifard Kashani.

Dieser Text wurde am 23.12. 2016 auf einer Sonderseite im Rahmen des Exiljournalistenprojekts #jetztschreibenwir veröffentlicht. Der Autor ist 23 Jahre alt und kommt aus Orazghan, Afghanistan. Dort hat er angefangen, Politik zu studieren, übersetzte für das US-Militär und war als freier Journalist für Radio- und TV-Stationen tätig. Seit August 2015 ist er in Berlin, geflohen über die Balkanroute. Er möchte ein Buch über seine Flucht schreiben. Ahmad Wali Temory hat am Tagesspiegel-Projekt #jetztschreibenwir teilgenommen und zusammen mit anderen geflüchteten Journalisten Kanzleramtschef Peter Altmaier interviewt. Derzeit macht er ein Praktikum im Bundestag, im Büro der SPD-Abgeordneten Brigitte Zypries – er hatte per Facebook-Nachricht um einen Praktikumsplatz gebeten.

Ahmad Wali Temory

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