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Weiberfastnacht in Düsseldorf.
© dpa

Krieg, Krisen und Karneval: Mehr Pietät, bitte!

Krieg in der Ukraine, mordende Dschihadisten, ertrinkende Flüchtlinge - und Karneval in Deutschland. Warum ist in diesem Jahr alles beim Alten, reibt sich niemand am Nebeneinander von brutaler Weltgeschichte und feuchtfröhlicher Spaßkultur? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

All das geschieht fast zeitgleich. Im Mittelmeer ertrinken mehr als 200 Flüchtlinge; bei der Berlinale fiebern alle der Premiere des Sadomaso-Films „Fifty Shades of Grey“ entgegen; kurz vor dem „Friedensgipfel“ in Minsk eskalieren die Kämpfe im Osten der Ukraine, Raketen schlagen in Wohnhäuser ein; nach „Karnevalissimo“, dem „Gipfeltreffen des Humors“ (zweieinhalb Stunden am Dienstagabend im ZDF) steht bei der ARD für Mittwochabend um 20 Uhr 15 „Düsseldorf Helau“ auf dem Programm; das Treffen in Minsk gilt als letzter Versuch einer Einigung, sollte er scheitern, könnte es zu Waffenlieferungen und einer erneuten Ausweitung des Krieges kommen; Richard von Weizsäcker wird beerdigt; nach dem Tod der 26-jährigen amerikanischen Nothelferin Kayla Mueller, die knapp zwei Jahre lang von der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ als Geisel gehalten worden war, veröffentlichen ihre Eltern einige Briefauszüge, darin heißt es: „Ich bin dankbar. Ich habe erkannt, dass es in jeder Situation etwas Gutes gibt, manchmal müssen wir nur Ausschau danach halten.“

Tragik und Komik, das Erhabene und das Banale, die Last und die Lust – das schließt sich nicht aus. Gelegentlich schlägt es beim Zusammenprall auch Funken. „Brot mit Tränen“ lautet der Titel einer kleinen Geschichte von Kurt Tucholsky: „Einmal, da starb einer Verwandten der Mann. Das war um sieben. Als er tot war, saßen nachher alle bei Tisch, gezwungenermaßen, wie nach einer geschlagenen Schlacht, nach einer Niederlage. Es war aus. Niemand sprach. Dann aber sprach jemand, und ich werde nie die Stimme der Frau vergessen, die da zu ihrer Schwester sagte, schluchzte, nass stöhnte: ,Wo hast du die Eier her?' Und die andere, tonlos, leergeweint, am Ende: ,Von Prustermann. Sind sie nicht gut?'“ - Und dann folgt vom Autor ein grandioser, lakonischer Satz: „Seht, so holt sich das Leben seine Leute wieder, die ins Land der Trauer auf Urlaub gehen.“

Als vor 24 Jahren der Zweite Golfkrieg begann, wurden die Rosenmontagszüge abgesagt

Allerdings gelingt das nicht immer. Manchmal übersetzt sich die radikale Disparität der Ereignisse nicht in ein kohärentes Gefühl. Wegen des Trauertags für den Tod von König Friedrich Wilhelm IV. fiel 1861 der Karneval in Köln aus. Als vor 24 Jahren der Zweite Golfkrieg begann, wurden in Köln, Mainz und Düsseldorf die Rosenmontagszüge abgesagt. „Die Pietät steht vor dem Mammon“ titelte damals die „Donau-Zeitung“. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 liefen wochenlang keine Comedy-Sendungen im amerikanischen Fernsehen. Und als vor wenigen Jahren ausgerechnet am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, ein Faschingsumzug in München stattfinden sollte, sprach der Zentralrat der Juden von einer „Entehrung und Beleidigung der Opfer“.

Warum ist in diesem Jahr alles beim alten, reibt sich niemand am Nebeneinander von brutaler Weltgeschichte und feuchtfröhlicher Spaßkultur? Auf der Berlinale, dem angeblich politischsten Filmfestival der Welt, spielt der Krieg in der Ukraine keine Rolle. Auch die Gräueltaten der IS-Milizen kommen nicht vor. Und die ARD schaltet vom "Brennpunkt" über den Gipfel von Minsk und die zivilen Toten in Kramatorsk direkt zum närrischen Treiben. Vielleicht ist es zu viel verlangt, mehr Pietät einzufordern. Was soll das schon sein – Pietät? Die stört doch nur bei dem Bemühen, es sich ungestört in der eigenen Wahrnehmungswelt bequem zu machen. Ins Land der Trauer auf Urlaub gehen: Mehr ist wohl nicht drin.

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