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Ein ukrainischer Soldat lässt sich von einem Kameraden den Schädel rasieren.
© AFP

Ukraine: Mehr Dezentralisierung wagen

Das ukrainische Verfassungsgericht hat mehr Autonomie für „Volksrepubliken“ gebilligt. Die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament ist aber keinesfalls sicher.

Der zweite Schritt in Richtung Dezentralisierung der Ukraine ist geschafft: Am Freitag gab das Verfassungsgericht grünes Licht für das wichtigste Reformprojekt von Präsident Petro Poroschenko. Ende August soll nun auch das Parlament in der zweiten Lesung dem Gesetz zustimmen, ob das gelingt, ist noch fraglich.

Mitte Juli waren die Abgeordneten der Werchowna Rada mit knapper Mehrheit dem Gesetzesvorhaben des Präsidenten gefolgt. In der für den 25. oder 28. August vorgesehenen zweiten Lesung braucht es eine Zweidrittelmehrheit von 300 Stimmen. Die Präsidentenpartei verfügt über 143 Sitze, und auch dort gibt es Abgeordnete, die nach wie vor mit Nein votieren wollen.

Die Dezentralisierung stößt auf so viel Kritik, weil die von pro-russischen Separatisten besetzten Gebiete Donezk und Luhansk eine Art Autonomiestatus erhalten sollen. Im Detail bedeutet die Verfassungsänderung: Die Kommunen können eigene Gerichte, Staatsanwälte und Polizeien aufstellen. Das Recht auf sprachliche Selbstbestimmung ist genauso vorgesehen wie eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation sowie die Abhaltung von Wahlen nach eigenen Gesetzen.

Die übrigen Gebiete erhalten sehr viel größere Befugnisse in Sachen Finanzausstattung und regionaler Selbstverwaltung. Bisher werden die rund 44 Millionen Einwohner der Ukraine aus Kiew regiert – kaum eine Entscheidung kann von den politischen Instanzen wie den Regionalparlamenten oder den Gouverneuren vor Ort selber getroffen werden. Selbst Projekte wie Schulbauten oder die Erneuerung einer Straße müssen von dem zuständigen Ministerium in Kiew abgenickt werden. Daran wollen auch die meisten Parlamentarier nicht festhalten, somit gilt der erste Teil der Dezentralisierung als mehrheitsfähig.

Poroschenko hat einen Trumpf im Ärmel

Komplett anders sieht es bei den Zugeständnissen für die besetzten Donbass-Gebiete aus. Ein Punkt der Minsker Vereinbarungen, die am 12. Februar von der EU, Russland und der Ukraine getroffen worden sind, sieht vor, den Gebieten Luhansk und Donezk mehr Eigenverwaltung zuzugestehen. Kritiker wie der Politologe Vadim Karasew warnen davor, dass der Westen dem Druck aus Russland möglicherweise nachgegeben hat: „Wir müssen abwarten und sehen, wie die Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten verlaufen. Es könnte sein, dass sich die Gebiete danach vollkommen von der Ukraine abwenden und Kiew die Kontrolle verliert“, warnte er im Gespräch mit der russischsprachigen Tageszeitung „Komsomolskaya Prawda“.

Viel heftigere Kritik kommt von der Regierungspartei „Samopomitsch“. Die als Stimme der Bürgerrechtler geltende neue politische Kraft hat in der ersten Lesung fast geschlossen gegen die Dezentralisierung gestimmt. Einzig die Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Hanna Gopko, ist dem Präsidenten gefolgt. Ihr Parteikollege Jegor Sobolew hat Gopko deshalb aufgefordert, den Ausschuss-Vorsitz niederzulegen, andere forderten sogar den Parteiaustritt.

Präsident Poroschenko hat angekündigt, dass er nach Kommunalwahlen, die nach ukrainischem Gesetz abgehalten werden, bereit ist, mit den Vertretern der besetzten Gebiete direkt zu verhandeln. Kiew sieht die derzeitigen Anführer der „Volksrepubliken“ nicht als legitime Vertreter der Donbass-Region an, sondern als Repräsentanten Moskaus.

Einen Trumpf hat Poroschenko noch im Ärmel: Der Beschluss des Verfassungsgerichts kann nicht angefochten werden. Sollte es Ende August zu keiner Mehrheit im Parlament kommen, könnte die Debatte erneut angesetzt werden. Ende Oktober sind in der Ukraine reguläre Kommunalwahlen. Wenn die Parteien im Wahlkampf damit werben, demnächst Kindergärten und Straßen ohne die Erlaubnis aus Kiew bauen zu können, wäre das für viele Abgeordnete möglicherweise doch ein Grund, für die Dezentralisierung zu stimmen.

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