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Hunderte von Russlanddeutschen demonstrierten in Villingen-Schwenningen gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland.
© dpa

"Fall Lisa" und das deutsch-russische Verhältnis: Matthias Platzeck: Es gibt derzeit ein tiefes Misstrauen

Brandenburgs Ex-Ministerpräsident und ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender über den Groll der Russen gegenüber Deutschland und den Hass auf Flüchtlinge im Osten.

Herr Platzeck, warum hat eine mutmaßliche Notlüge eines 13-jährigen Mädchens so viel Aufregung ausgelöst?
Der Fall Lisa hat nur die Spitze eines Eisbergs offenbart. Eines Eisbergs aus vielschichtigen und tiefgehenden Problemen. Das hat vor allem etwas mit dem derzeit schlechten Verhältnis zwischen Russland und Deutschland zu tun, aber auch damit, dass die so genannten sozialen Medien jede Meldung unglaublich schnell verbreiten – ohne ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Professionelle Journalisten, die erst recherchieren, haben da oft das Nachsehen. Mir macht das Angst. Schon Otto Reutter hat gesungen: „Ich kann das Tempo nicht vertragen.“

Aber es gibt ja schon noch den sorgfältigen Umgang mit Informationen, oder?

Ja, zum Glück. Und es gibt auch noch genügend Menschen, die lieber eine seriöse Zeitung lesen als sich im Netz Nachrichten anzuschauen, von denen nicht einmal die Hälfte stimmt.
Im Fall Lisa war das aber nur ein Teil des Problems. Auch nachdem nach entsprechenden Ermittlungen feststand, dass es keine Vergewaltigung durch Flüchtlinge gegeben hat, sagten viele Russen oder Russlanddeutsche, dass sie der deutschen Polizei und Staatsanwaltschaft nicht glauben würden.

Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD).
Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD).
© dpa

Es gibt derzeit ein tiefes Misstrauen gegenüber Deutschland und einen Groll, der sich über Jahre aufgestaut hat. Selbst liberale Russen werfen uns beispielsweise vor, dass Deutschland ihnen durch den Boykottaufruf von Bundespräsident Joachim Gauck und die damalige Berichterstattung die Olympischen Spiele in Sotschi verdorben habe. Oder dass wir die Verurteilung der Putinkritischen Rockband Pussy Riot unverhältnismäßig hoch gespielt hätten. Ganz zu schweigen von den Sanktionen wegen der Krim.
Die wurden ja nicht nur von Deutschland, sondern von der EU beschlossen.

Ja, aber viele Russen können das nicht begreifen. Die meinen immer noch, es reiche ein Anruf aus Berlin, um die Sanktionen zu beenden. Dass da noch weitere 27 Hauptstädte mitzureden hätten – unter anderem Warschau – blenden sie aus. Mir sagen auch nicht wenige russische Freunde, dass sie früher immer darauf Wert gelegt hätten, Lob und Anerkennung aus Deutschland zu erhalten. Das sei jetzt anders, habe sich fast ins Gegenteil verkehrt. Da ist vieles irrational. Aber wir haben auch manches falsch gemacht.
Was denn?

Der Kernfehler unseres Umgangs mit Russland war und ist unsere Sicht, dass wir selbstverständlich über die besseren Werte und das überlegenere, bessere System verfügen. Und dass Russland sich uns gefälligst anzupassen habe. Wir wollen partout nicht einsehen, dass wir es bei diesem Land mit einer fehlenden Demokratiegeschichte und mit einer anderen Mentalität und Größe zu tun haben. Dass dort beispielsweise 80 Völkerschaften leben und dass ein solches Land möglicherweise einen etwas anderen Weg geht und gehen muss.

Erschreckt es Sie nicht, wie groß die Ablehnung oder gar der Hass auf Flüchtlinge in Russland ist?

Doch natürlich. Aber das ist beileibe kein russisches Phänomen. In der Slowakei lehnen aktuellen Umfragen zufolge 90 Prozent der Bevölkerung die Aufnahme von Flüchtlingen rundweg ab. In Tschechien sind es 85 Prozent. Und auch im Osten Deutschlands sind es weitaus mehr Menschen als beispielsweise in Freiburg im Breisgau.

Hat das also etwas mit den Nachwirkungen der totalitären Systeme zu tun, die es in diesen Regionen gab?

Das ist sicher ein Grund. Es hat aber auch damit zu tun, dass Slowaken, Tschechen, Russen oder Ostdeutsche in den 90er Jahren, also vor relativ kurzer Zeit, einen sehr großen und dramatischen gesellschaftlichen Umbruch erlebt haben. In Freiburg im Breisgau hat es hingegen seit sieben Jahrzehnten keine größeren Erschütterungen gegeben. Dort hat auch kaum einer mitbekommen, dass sich vor 25 Jahren fast jeder Ostdeutsche neu orientieren musste, dass es Massenarbeitslosigkeit gab und viele Menschen auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verlassen mussten.

Sprechen Sie jetzt aus Ihrer Erfahrung als Ministerpräsident des Landes Brandenburg?

Ich lebe seit über 60 Jahren hier. Es hat lange gedauert und viel Arbeit gekostet, bis die Menschen wieder Vertrauen in die Zukunft hatten. Es wurden ja regelmäßig Umfragen durchgeführt und danach hat es erst vor etwa fünf, sechs Jahren einen signifikanten Stimmungsumschwung gegeben – von Existenzangst zu vorsichtigem Optimismus. Wahrscheinlich befürchten nun viele, dass mit den Flüchtlingen erneut unsichere Zeiten anbrechen.
Haben Sie Angst um die Demokratie in Deutschland und Europa?

Ich halte nichts mehr für undenkbar – auch, weil ich nie geglaubt hätte, dass der Nationalismus wieder so stark wird. Wir erleben das in vielen Ländern, unter anderem auch in Polen, was mich sehr erstaunt und betrübt. Und wir Deutschen sind wahrscheinlich auch anfällig dafür. Das merkt man schon jetzt, obwohl es uns wirtschaftlich blendend geht. Ich weiß nicht, was geschieht, wenn sich das ändert. Bislang hat Demokratie in Deutschland nur im Wohlstandsmodus funktioniert.
Könnten geschlossene Grenzen daran etwas ändern?

Das glaube ich nicht. Weil – wir könnten ja zum Beispiel kein Auto mehr zusammensetzen, wenn die Grenzen dicht sind. Außerdem profitieren wir wie kaum ein anderes Land von einem gravierenden Exportüberschuss. Mit anderen Worten: Wir leben ja derzeit sehr gut – und zwar auch auf Kosten jener, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Und weiter kommen werden.
Das wollen viele nicht wahrhaben.

Wenn meine Familie vom Hungertod oder Bomben bedroht wäre, würde ich mich auch mit ihr auf den Weg machen. Jeder würde das tun. Schon Willy Brandt hat gesagt, dass der Ost-West-Konflikt nichts gegen den Nord-Süd-Konflikt sei. Das ist aktueller denn je. In Afrika deutet sich derzeit ein Zerfall von Staaten an, der zusätzlich zu den 60 Millionen Menschen, die schon derzeit auf der Flucht sind, eine weitere Völkerwanderung hervorrufen wird. Da liegen ganz andere Herausforderungen vor uns als der Ukraine-Konflikt. Für den lässt sich eine Lösung finden, davon bin ich nach wie vor überzeugt.

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