Betäubungspflicht auf 2021 verschoben: Massenhaltung - eine hodenlose Schweinerei
Ferkel dürfen ohne Betäubung kastriert werden. Aber was ist ein kurzes Autsch gegen den saumäßigen Rest des Schweinelebens in der Massenhaltung? Eine Kolumne.
Wer wäre denn nicht für Tierschutz? Und dann bohren sich Gabel und Messer in den Teil vom Schwein, der gegrillt oder gebraten auf dem Teller liegt, es wird gesäbelt und zerteilt. Dann wird der Mund aufgesperrt, und der Mensch isst im konkreten Einzelfall auf, was er grundsätzlich für schützenswert hält. Diesem Grundkonflikt zu entkommen, ist einerseits eine Meisterleistung, andererseits auch nicht mehr als: menschlich. Auch Bauern interessieren sich für das Wohl der Tiere, deren Tötung ihr Geschäftsmodell beinhaltet.
Zu der großen Verleugnungsanstrengung gehört aber nicht automatisch auch das Abspalten jeglichen Mitgefühls. Dass nur ein paar Tage alten männlichen Ferkelchen die Testikel ohne Narkose abgeschnitten werden, gilt als nicht akzeptabel. „Was tut ihr uns an?“, fragte der Tagesspiegel etwas mitleidheischend in seiner Donnerstagausgabe stellvertretend für alle männlichen Ferkel. Und trotzdem wurde im Bundestag dafür gestimmt, die Frist für das Umstellen auf Kastration unter Betäubung um zwei Jahre zu verlängern. Statt ab 2019 wird das erst ab 2021 Pflicht. Für Millionen weitere männliche Ferkel heißt das bis auf Weiteres – Autsch!
Was ist das kurze Schnippschnapp gegen ein ganzes saumäßiges Massenhaltungsleben?
Andererseits: Was ist der zehn Sekunden dauernde Kastrationseingriff, der immerhin unter Schmerzmittelzugabe geschieht, gegen den (zumindest von Außenstehenden) oft als saumäßig empfundenen Rest des durchschnittlichen Schweinelebens in der deutschen Massenviehhaltung? Was ist das Schnippschnapp gegen lebenslange Enge (einem 110 Kilogramm schweren Mastschwein stehen 0,75 Quadratmeter Raum zu), Spaltenböden aus Beton, Schutzgestänge für Sauen, die ihre Ferkel nicht zerquetschen sollen, und reihenweise kupierte Schwänze?
Wieso wird dagegen von gesetzgeberischer Seite nichts unternommen, wohl aber – zumindest ab 2021 – gegen den einen Eingriff am männlichen Ferkel? Das ist und bleibt so rätselhaft, wie das ganze Verhältnis von Mensch und Schwein auch sonst ist. Schweine sind jenseits der rosarot-pfiffigen Märchen- und Bauernhofidyllfigur vor allem eine Art Nutzstoff. In Zahlen: Im Jahr 2017 wurden rund 58 Millionen Schweine geschlachtet. 159 000 pro Tag. Agrarindustrielle Schweinezüchter-Begrifflichkeiten wie Ferkelerzeugung, Haltungsmanagement, Vermarktungsstruktur, Verbraucherreaktionen, Kostenfolgenabschätzung verstärken den dinglichen Eindruck – wie auch die Tatsache, dass bei den Debatten über die Ferkelkastrationsbetäubung vor allem die wirtschaftlichen Folgen im Fokus stehen.
Es dreht sich sehr viel um die Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Denn Deutschland ist ein Gigant an der Schweinefleischexportfront. Das bedeutet auch, dass sich der Umgang mit den Tieren nicht nur an deutschen Gemütszuständen orientiert, sondern auch an denen in asiatischen Ländern.
Asien nimmt Ohren, Schnauzen, Füße ab
Dorthin gehen jene Teile vom Schwein – Ohren, Schnauzen, Füße –, die in Deutschland keiner essen will, die aber trotzdem mit jedem Schwein wiederkehren (jedenfalls solange es nicht gelingt, ein Schwein zu züchten, dass ausschließlich aus Filet besteht). Dieser Umstand ist einer der Gründe, die von der Schweinewirtschaft angeführt werden, wenn es darum geht, dass man die männlichen Ferkel unkastriert zu Ebern heranwachsen lassen könnte. Eberteile gingen in Asien nicht, heißt es bei der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN).
Eberteile gehen auch in Deutschland nicht so gut. Aber die Verbraucher hierzulande wären vielleicht bereit, wenn man sie entsprechend aufklärt, mehr Geld auszugeben, wenn dafür eine garantiert schmerzlose Kastration garantiert wäre. Und was, wenn nicht?
Es gibt Länder, die längst handeln: Die kleine Schweiz beispielsweise kastriert laut ISN unter Vollnarkose. Spanien, ebenfalls ein Schweinefleischexportgigant, lässt die männlichen Ferkel heranwachsen und schlachtet sie, bevor sie geschlechtsreif und somit streng ebermuffig werden. In Dänemark und Schweden werden die Ferkel lokal betäubt und dann operiert. Das geht alles. Nur in Deutschland wird auf der Suche nach der vermeintlich besten Lösung eine möglicherweise sehr unpraktische ausgewählt, dann vor den damit einhergehenden Schwierigkeiten in Deckung gegangen, nicht gehandelt, sondern geredet, und am Ende erfolgt die Vertagung.
Auf der Strecke bleibt das Verfassungsrechtsgut Tierschutz und damit auch die rosarote Hoffnung, Schweine würden baldmöglichst wieder etwas mehr wie Lebewesen behandelt – und etwas weniger wie totes Material.
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